Die klarste Durchdringung der Grundformen aller je möglichen Denkverfahren im Bewusstsein hat wohl J. Widmann in seiner Besprechung der WL-1804-II vorgelegt.
Wie das Bewusstsein in seinen Grundformen ĂĽberhaupt konstituiert wird, genetisch konstituiert wird aus einem Grund-Akt des Setzens, in 16 Grundbegriffen und deren folgenden Evidenzen und weiteren Modifikationen der Anwendung.
Die Reflexion der Grundprinzipien des Wissens geschieht immer, zeitlos, ist eine einzige praktische Konsequenz. Das jetzt strukturell und dann individuell im Vollzug darzustellen, das heißt „Wissenschaftslehre“.
Das „Soll“ eines möglichen Bewusstseins muss den Ăśbergang schaffen zur Wirklichkeit und Faktizität des Bewusstseins. Das „Soll“ ist das Prinzip der Disjunktion zwischen bloĂź möglichem und wirklich vollzogener Konsequenz des Denkens, ist selbst schon eine freie Konsequenz, denn es muss ja nicht bewusst gedacht und bewusst vollzogen werden, die genetisch und im Conditional des Denkens von Möglichkeit die Verwirklichung – und als Verwirklichung – zugleich jetzt eine causale Abhängigkeit erzeugt.
Das Soll des conditionalen Denkens, so muss gesagt werden, erscheint unlösbar an causale Abhängigkeit gebunden, denn es lebt nur in dieser causalen Konsequenz und Abhängigkeit. Es ist Resultat seiner selbst, causa sui, nicht nur conditio sui, wobei die Differenz bleibt zum absoluten Sein.
Anders gesagt: Es ist keineswegs causa schlechthin, sondern nur causa sui.
(Dahinter steckt nochmals ein Differenz zwischen dem Sollsein der Freiheit als Existenz und Faktizität – und dem individuellen Vollzug dieser Freiheit, die mit dem Lebensende aufhört in Synthesis mit dieser gesetzten Faktizität möglicher Freiheit.)
Im Prinzip des Solls liegt der Ursprung der Zeit, die Genesis der faktischen wie individuellen Zeit.
Das Prinzip des Solls führt hinein in eine Differenzierung eines a) absoluten Solls als Real-Grund aller Erscheinung faktischer Freiheit und und faktischer möglicher Selbstbestimmung (=kontingentes Soll) und b) zum transzendentalen Denkens von Möglichkeit einer faktischen Selbstbestimmung.
Im absoluten Soll, oder anders formuliert, im absoluten Geltungsgrund, liegt nicht die faktische Durchbestimmung des kontingenten Solls, sondern dessen Möglichkeit faktischer Selbstbestimmung.1 Fällt die faktisch bestimmte und bestimmbare Möglichkeit eines kontingenten Solls weg, fällt mit der Faktizität alles ins Nichts zurück.
In der Geistesgeschichte wurde dieser Übergang von einem absoluten, göttlichen Soll zur Wirklichkeit im Begriff des „Logos“, des Schöpfungs-Wortes beschrieben. Ich möchte hier bei den logischen Begriffen des „Grundes“ und seiner „Folge“ bleiben und deren verbindender, sie als solche verschieden erst setzenden „Nexus“ bleiben.
Das in der Philosophiegeschichte drunter und drüber gehende Denken von Grund und Folge, und das damit oft zusammengeworfenen Ursache-Wirkungs-Denken, das verhält sich in genetischer Abhängigkeit zueinander, ist aber ich nicht abhängig voneinander.
Wird nur im Conditional des Bedingungsdenkens geblieben und gedacht, was der Vernunft vorbehalten ist, ergeben sich keine realen Verhältnisse; wird alles auf ein reale Ursache-Wirkungs-Kette zurückgebunden, was dem Verstand zusteht, werden unbemerkt Bedingungsverhältnisse unterschoben, die als solche oft nicht reflektiert sind.
Die Lösung eines sowohl conditionalen-consequenz-Denkens wie eines causalen effectus-Denkens führt zum Ursprung beider in der Genesis ihrer Existenz und ihrer bildhaften Abhängigkeit von einem absoluten Soll zurück.
Beide Denkungsarten sind modi der Erscheinung (Erscheinungsweisen) des absoluten Solls – und können deshalb in ein wahres Bild-Verhältnis (zueinander) des absoluten Solls (oder absoluten Seins) gebracht werden.
Das Bildverhältnis und generell das transzendentale Bilden und Nach-Bilden des absoluten Solls (des Geltungsgrundes Sein) ist nicht unmittelbares Bild des unsichtbaren Grundes, sondern nur Erscheinung aus dem Bild des Grundes.2
Nichtsdestotrotz bedeutet die Ableitung der beiden Denkungsarten aus dem absoluten Soll – die genauere Darstellung durch den Begriff, in der Form des „durch“, durch „Genesis“, muss ich hier ausblenden, siehe ebenfalls J. Widmann3 – nicht ein unbestimmtes Irgendwie, sondern ein bestimmtes Grund-Folge-Denken und ein bestimmtes Ursache-Wirkungsdenken in und aus der Bejahung bzw. Negation von Existenz.
Der absolute, eine Geltungsgrund steht gar nicht in seiner Unmittelbarkeit in Frage, sondern in seiner mittelbaren Erscheinung.
„Was wir im Aufsteigen aufgehoben haben (sc. im Begriff der Genesis), waren die Bedingungen der Erscheinung. Wir wir jetzt suchen, ist die Selbstbestimmung der Erscheinung, die sich unter anderm in jenen Bedingungen (sc. von conditio und causa) äußerte.“4
J. Widmann führt dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis von conditionalem und causalen Denken genauestens aus. Die Bildverhältnisse im Punkt der Gegenwart, noch ohne Vergangenheit oder Zukunft gesehen, sind nur von conditio und consequenz beherrscht; causa und effectus aber müssen ebenso notwendig und wirklich erschlossen und mittelbar den gegenwärtigen Phänomenen appliziert werden.5 Das Bildsystem des Möglichen und das der Vieleinheit des Wirklichen durchkreuzen sich in der Einheit der Erscheinung.6
In einer idealistischen Betrachtungsweise des Begriffes, wonach durch den Begriff, oder anders gesagt, durch die Freiheit, alle Anschauung und Objektivierung geschaffen und gesetzt wird, fällt das Bild dieses Denkens von Handlungsfreiheit nicht in ein zeitliche Erstreckung, sondern nur in die Sichtbarkeit und Qualität conditionaler Verhältnisse: Die Freiheit soll Grund sein der Folge aller Vorstellung und Objektivierung, ergo ist die in der imaginativen Tätigkeit der Reflexion sich einstellende intellektuelle Anschauung eine konstituierende Tätigkeit, eine unmittelbare, hinreichende Erklärung eines Ereignisses. Freiheit kann in der phänomenalen Welt der Ereignisse als hinreichenden Begründung angenommen werden. Siehe die Diskussion bei A. Schmid und von O’Connor und Carl Ginet.7
„Causale Bezüge können im Punkt der Gegenwart nicht unmittelbar gesehen werden, sondern müssen mittels der Conditionalbezüge erschlossen werden.“ 8
Diese idealistische Theorie muss aber notwendig ergänzt werden von einem realistischen Denken:“Dass Causalbezüge erschlossen werden müssen, bedeutet aber keineswegs, dass sie den Conditionalbezügen gegenüber nicht wären. Beide entspringen direkt aus der Urgenesis und sind in ihrer actualen Realität nur von ihr, nicht voneinander abhängig. Nur wenn sie von der Urgenesis gesondert werden, werden sie „nichtig“. Wenn dagegen reale Causalität aus der Conditionalität ausgeblendet wird, wird diese leer – und wird aus der lebendig existierenden Causalität Conditionalität ausgeschaltet, so wird das causale Leben blind.“ 9
Folge ich jetzt dem Artikel v. Andreas Schmid, wonach Fichte im Denken von Freiheit (oder Willensfreiheit) einem spinozistischen Konzept des Begriffes folgt, d. h. dass mittels Begriff, der die Erkenntnis eines Gegenstandes durch eine Ursache meint, die Existenz einer Sache gesetzt ist, bei Spinoza „deus sive natura“, so müsste durch die Freiheit (d. h. den Begriff) die Erscheinung der Freiheit hinreichend erklärt und gesichert werden können.
Da könnte aber jetzt gefragt werden, der Begriff setzt (nach Spinoza) die Sache, oder das Gedachte, dann ist also die intellektuelle Anschauung als Vermögen der Sichtbarkeit dieses Begriffes, abhängig vom Vollzug der Freiheit? Ist das nicht ein reichlich idealistische Vorstellung? Wird die durch Freiheit bewirkte intellektuelle Anschauung nicht leer und nichtig?
Fichte hat in den ersten Wln die intellektuelle Anschauung als konstituierendes Vermögen aller Selbstbestimmung angesehen. Der Wille ist unmittelbar frei – und alles andere wäre ein Widerspruch. Das kann unmittelbar eingesehen und perzipiert werden.
In späteren Jahren, so zumindest nach A. Schmid, wollte er die phänomenale Seite der Erscheinung von Wille und Freiheit zunehmend zurĂĽckdrängen – zugunsten eines reinen Begriffes von Freiheit als Akteurs-Kausalität. (Man könnte in moderner Terminologie sagen, in existentialistischer Weise). (Siehe folgendes Zitat aus „Darlegung der Thatsachen des BewuĂźtseyns“)
Auf der Ebene einer reproduzierenden Imagination stellt sich unmittelbar die intellektuelle Anschauung ein, das ist unmittelbare Einsicht. Die intellektuelle Anschauung ist hier selbst mit der Freiheit mit-konstituierend in der Nach-Konstruktion und Re-Produktion.
Die Frage nach dem Real-Grund dieser Freiheit und der intellektuellen Anschauung auf der Seins-Ebene der Reflexion selbst – das muss freilich auf der Erscheinungsebene offen bleiben. Nach Carl Ginet kann aber von einer „hinreichenden“ Erklärung der Freiheit gesprochen werden.10
„Die Freiheit in der Reflexion [auf die Wahrnehmung] ergreift nicht sich selbst auf der That, die Freiheit zur That wird hinzugethan. [Dagegen:] Hier [sc. in der Reproduktion] wird die Freiheit ergriffen unmittelbar im Thun. Die Freiheit liegt hier nicht etwa im Begriff der sich verbirgt als Factor, sondern in der Anschauung.[…] Das Denken giebt[in derReflexion] den Grund der Freiheit: die Freiheit ist nicht in der Anschauung, sie ist im Denken nach dem Grunde. Hier aber [in der Reproduktion] sind in der unmittelbaren Anschauung selbst Phä nomen, Bild, und Grund desselben schlechtweg synthetisch vereinigt.“14 (Darlegung der Thatsachen den Bewußtseyns (Nachschrift, 1811), GA IV/4, 151.
Die gegensätzlichen Möglichkeiten idealistischer oder realistischer Erklärung11 des Grundes der Freiheit lösen sich in der Urgenesis des Geltungsgrundes auf. So die ganze zusammenfassenden Sicht der WL-1804-II und die ganze Interpretation bei J. Widmann. Conditionales und causales Denken stehen zwar in einem unauflöslichen Verhältnis zueinander, sind aber nicht abhängig voneinander. Beide gehen disjunktiv als Möglichkeit des Denkens und als Wirklichkeit in der Erscheinung hervor. Beide disjunktiven Seiten müssen zugleich sein: Bloße Reflexion wäre nichtig und leer, es muss die intellektuelle Anschauung hinzukommen, wie Fichte das im Reproduktionsmodus und auf Erscheinungseben hinreichend beweisen kann, zugleich gibt es nur die Reflexion der Freiheit (des Begriffes) durch eine existierende realistische Causalität.
In der AzsL (1806) wird die Quelle des Lebens als göttliche Quelle stets bekannt, insofern das reflektierende Denken in seinem projizierenden Tun nicht selbstherrlich das Sein schafft – zwar auch „Weltschöpfung“ genannt -, sondern nur in Bezug auf das absolute Sein von einem transzendental wahren Sein des Bildes gesprochen werden kann.
Nach der WL-1804-II so ausgedrückt, das transzendentale Sehen ist „notwendiges“ Sehen ( WL-1804-II, 27. Vortrag), d.h. wenn frei gehandelt wird, ist notwendig der reale Geltungsgrund vorausgesetzt. Die über causales Denken des Verstandes hinausgehende Vernunft im 27. Vortrag wird dabei ausdrücklich als „genetisch“ benannt, d. h. insofern sie causales Verstandesdenken ist, ist sie Kausalitätsdenken, insofern sie durch Freiheit bedingtes Denken ist, ist sie kreatives Vernunftdenken.
Beides, Conditonalbezüge des freien Handelns, sichtbar in konstituierender intellektueller Anschauung, und Causalbezüge in zeitlicher Erstreckung, entspringen in ihrer actualen Realität der Urgenesis der Erscheinung des Absoluten, das, wie gesagt, nicht in seiner Unmittelbarkeit in Frage steht, sondern in seiner mittelbaren Erscheinung, die sich bestimmt zeigt in der Selbstbestimmung der Freiheit.
© Franz Strasser, 15. 11. 2025
1 Joachim Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre WL-1804-II, Hamburg 1977.
Ders., Johann Gottlieb Fichte. EinfĂĽhrung in seine Philosophie, Berlin/New York, 1982, S. 102
2 J. Widmann, ebd. S. 128.
3 J. Widmann, ebd. S. 123 – 132.
4 J. Widmann, ebd. S. 129.
5 J. Widmann, ebd. S. 130.
6 J. Widmann, ebd. S. 130.131: (….)“Faktische ConditionalbezĂĽge sind effectus der Wirklichkeitsgenesis – wie umgekehrt effektive Wirklichkeit zu ihrer prinzipiellen Möglichkeit im Verhältnis des consequens zum antecedens steht. Causa und effectus sind die Mittel der Genesis zur Verwirklichung ihrer Möglichkeiten. Antecedens und consequens wiederum sind die Form, unter der sich der Ăśberblick ĂĽber das Mögliche im Gegenwartspunkt der besonderen Teilgenesis vollzieht.Â
Im Gegenwartspunkt muß das Causalsystem durch das Conditionalsystem vermittelt werden. Der Punkt des distinkten Jetzt ist effectus einer vorausliegenden Teilgenesis und zugleich causa einer folgenden Teilgenesis. Inwiefern er effectus und inwiefern er causa ist, läßt sich nur mittels des zeitlich vertikalen Bezugsbildes conditionaler Abhängigkeiten bewußt machen. Der Blick muß den conditionalen Zusammenhang erfassen und er muß an den faktischen Phänomenen zur möglichen conditio die wirkliche causa und zum möglichen consequens den faktischen effectus finden. Kurz – er muß das Mögliche am Wirklichen und das Wirkliche durch das Mögliche identifizieren.“
7 Andreas Schmid bezeichnet dieses Denken als „spinozistische Theore des Begriffs“. Er überträgt das auf Fichte, aber dort transzendental gewendet und nochmals von neuerer Philosophie besprochen, wenn es um den Begriff der Freiheit als Akteurskausalität oder als phänomenale Erscheinung geht (O’Connor u. Carl Ginet).
A. Schmidt, Grund Begriff in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo. In: Die Rolle von Anschauung und Begriff bei Johann Gottlieb Fichte. Hrsg. v. Violetta Waibel, 2021, S. 145 – 155. Download bei JSTOR.
8 J. Widmann, ebd. S. 139.
9 J. Widmann, ebd. S. 139.
10 Vgl. die Diskussion bei A. Schmid, ebd. S. 149 – 151.
11 A. Schmid neigt dann zu einer skeptischen Sicht einer nicht möglichen akteurhaften Einsicht in die Freiheit und begründet das anhand des „Aenesidemus“ von E. Schulze.