Zum Begriff des Transzendentalen – 1. Teil

1) Die antike Vorgabe bestand in einer homologen Einheit von Denken und Sein, in der und aus der sowohl alle Erkenntnisbedingungen wie Seinsbedingungen abgeleitet werden konnten.  Ein Platon sah die Einheit in der höchsten Idee des Guten, ein Aristoteles in einem wissenschaftlichen „nous“ des „Sich-denkenden Denkens“.  

Das Mittelalter dachte dann viel über die aller-allgemeinsten Eigenschaften des Seins nach und nannte sie „Transzendentalien“. Etwas „Seiendes“ und das „Eine“, „Wahre“, „Gute“ (evtl. noch das „Schöne“) sind austauschbar. Eigentlich seltsam, inwiefern sich in jedem Erkenntnisakt des aktuellen Denkens von Sein/Seiendem die Objektivation des Einen, Wahren, Guten (und Schönen) einstellt! Woher kommt diese unerzeugte Positivität im Denken? Warum trifft das Eine, Wahre, Gute (und Schöne) auf die Aktualität des Seins/des Seienden im Erkennen zu? Sind diese „Transzendentalien“ Eigenschaften des Seins/des Seienden selbst oder drücken sie Relationen des Erkennenden zum Sein/zum Seienden aus? Im letzteren Fall ergeben sich Partizipationsmöglichkeiten für das Erkennen bzw. Grade des Seins und Partizipationsmöglichkeiten mit dem höchsten Sein, d. h. mit  Gott. Wenn ich das Eine, Wahre, Gute, Schöne erkennen kann, muss ich auch an dieserm Göttlichen teilhaben können?! (Zu den Relationen der Transzendentalien zählen inbesondere neben den Begriffen Teil-Ganzes die Begriffe der Identität und dessen Negation und die graduellen Abstufungen). Es sind hier viele Fragen enthalten, auf ich nicht annähernd eingehen kann. Es ist die Hauptfrage aller Erkenntnistheorie und Metaphysik, wie setze ich einen Begriff an, ein „agere“ ohne dem Vermögen des Seins?, oder ist doch im Begriff der Grund des Seins schon mitgesetzt, wie Spinoza das theoretisch auf den Begriff gebracht hat? Einen Gegenstand erkennen heißt ihn in seiner Ursache, in seinem Begriff zu erkennen. Erst durch Denken werden die Gründe des Seins eingeführt. Ich kann nur verweisen auf Literatur. 1

Wie ist die antike Vorgabe der Einheit von Sein und Denken möglich? Es gibt Ansätze, die für sich oft den Anspruch einer „transzendentalen“ Erklärungsart oder eines „transzendentalen“ Wissens erheben, aber ihre Erkenntnisweise gerade nicht begründen und rechtfertigen können. So jetzt wieder gelesen bei Peter F. Strawson, der die „transzendentalen“ Bedingungen als bloß deskriptive, unhintergehbare, sprachliche Argumentationskriterien aufstellt, sodass ich zwar von „Letztbegründungen“ sprechen kann, aber eine Existenzbehauptung dieser Letztbegründung ist damit nicht gemeint.
Wieder andere, „transzendentale“ Letztbegründungen meinen eine faktische Unhintergehbarkeit eines logischen oder moralischen Argumentes. Es muss z. B. die transsubjektive Kommunikationsgemeinschaft anerkannt werden, sonst könnte eine Verstehbarkeit und Lesbarkeit nicht gelingen. Es sind dies
retorsive , faktisches Begründungsferfahren, die schließlich auf anscheinend prinzipielle Unhintergebarkeiten hinauslaufen. 
Eine faktische Erkenntnisbedingung ist  aber noch lange keine transzendentale Wissensbedingung. Über einen
faktischen Beweis einer wie immer gearteten verstandesmäßig-logischen Erkenntnis – so wie Spinoza das tut und viele Rationalisten, von ihnen „apodiktischer“ Beweis genannt – muss es noch einen höheren Beweis geben, wie Descartes das mit seinem „genius malignus“ Argument vorbringt (oder ein Fichte in der WL 1801/02, worin er die verstandesmäßigen Notwendigkeiten hinterfrägt), geschweige dass es über einen faktischen Beweis einer empirischen Sinneswahrnehmung, und sei es die Unterhintergehbarkeit einer Kommunikationsgemeinschaft, eine sichere Erkenntnis gäbe!
Es muss eine Erkenntnis geben, die zweifelsfrei, de jure, vom Ursprung und im Übergang zum Werden, eine „genetische“ Erkenntnis ist.
Fichte wird über Platon, Plotin, Descartes hinaus von dieser  „
genetischen“ Erkenntnis sprechen, d. h. von einer intelligierenden Einsicht, wei es zu faktisch-logischen Verstandesgesetzen und sittlich-werthaften und  empirischen Seins-Erkenntnissen kommt. 

Dieser Grundmodus des Sich-Wissens und Sich-Erkennens entfaltet sich in einem gesetzhaften Bilden, d.h.  in einem wahren Bilden des Bildes vom Seins,  das in und aus notwendigen, diskursiven Begründungen eine Disjunktionseinheit bildet, worin die aller-allgemeinsten, transzendentalen Bestimmungen des Seins – das Eine, Wahre, Gute, Schöne – einfließen und mit dem Erkennen übereinstimmen. Da wären wir dann wieder bei der Transzendentalienlehre des Mittelalters! 

Dass und wie ein Faktum überhaupt zustande kommt, sei es intelligibler oder empirischer Natur,  es muss a) eine für sich selbst unwandelbare Einheitsform und Geltungsform in der sonst beobachtbaren Wandelbarkeit des Bewusstseins geben, und b) darüber hinaus auf einen absoluten Geltungsgrund verwiesen werden können,  worin die Geltungsform als Freiheit des Sich-Bildens (in einem platonischen Schema von Urbild/Bild) begründet und bewährt (gerechtfertigt) ist. Der Begriff des Begriffes vom Sein (convertuntur mit dem Einen, Wahren, Guten, Schönen) muss sich bewähren können. (Ich rücke damit wieder in die Nähe der Konzeption von Spinoza, wobei letzerer aber nicht erklären konnte, wie von der Substanz zu den Attributen übergegangen werden könne; das ist dort ein eklatanter Mangel.) 

Fichte steigt in seinen „Wissenschaftslehren“ sowohl zu einer Genesis a) mittelbarer Setzungen durch philosophische Abstraktion und reduktiver Konkretion auf, als auch  b) phänomenologisch zur unmittelbaren Faktizitätsgenesis  herab. Aber alles verweist c) auf eine absolut unerzeugte Positivität der Sich-Äußerung und Erscheinung des Absoluten im Sich-Bilden oder absoluten Wissen oder, anders gesagt, auf basale Existenzbedingungen (des Selbstbewusstseins).  

Wie Kant jedes vorschnelle Schließen auf eine unbegründete Bedingung der Möglichkeit des Erkennens abgelehnt hat, falls die Bedingung des Wissens nicht deduziert werden kann – siehe sein Abschnitt zur Scheindialektik in der KrV -, so hat in Fortführung Fichte ein unbegründetes Denken zurückgewiesen, trotzdem aber auf eine Letztbegründung des Sehens und Einsehens gedrungen.  Es muss eine sich wissende, konstitutive Bedingung des Wissens geben, die gerade in ihrer transzendierenden Beziehung zum höchsten Sein und Guten und Wahren (und Schönen) im Ich selbst eingesehen werden kann.   Das wirkliche Sehen ist „notwendiges Sehen“ (27. Vortrag, WL 1804/2). (Wie das Transzendentalien-Denken nach Fichte in concreto des Verfahrens eingeholt werden kann – siehe z. B. Blog zur Transzendentalen Logik. 1. Teil – Link.  Jede Aussage ist bezogen auf absolute Wahrheit.)

2) Natürlich nimmt man in den Anfangsbestimmungen gleich wichtige Entscheidungen vorweg. Um meinerseits einsteigen zu können, möchte ich gleich mit dem transzendentalen Sich-Wissen bei PLATON beginnen, der explizit die Einheit von Denken und Sein auf den Begriff brachte – und in dem Begriff vom   apriorischen Vorwissen“ – „pro-eidenai;“ (Phaidon, 74 e – u. a. Stellen) –  genetisch eingesehen hat. 
(Viele Philosophen können als „Transzendentalphilosophen“ ante litteram  bezeichnet werden PLATON, PLOTIN, ANSELM, DESCARTES. Die  absolute Gewissheit, die Wahrheit, das Gute, das Eine, das Schöne und Vollkommene, kann allein Ausgangs- und Endpunkt des Philosophierens sein, sonst dreht man sich im Kreise.)

Wenn ich dann ins 18. Jhd. springe und Kant und Fichte vergleichen möchte: Transzendentale Erkenntnis nach Kant ist eine Anschauungsform des Denkens, wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Wie geschieht Denken in dieser Polarität von reiner Anschauung und sinnlicher Anschauung und Verstand, und welche Funktion hat darüberhinaus die „Vernunft“. 
Transzendentale Erkenntnis nach Fichte ist Anschauung der Form, wie geschieht Anschauung und Denken in einem? Was heißt Begreifen gemäß der einen Vernunft und wie entfaltet sich dann die Vernunft in ihrer fünffachen Weise der Erkenntnis? Das setzt konstitutiv das Transzendentale von Wahrheit, das Gute, Eine, Schöne voraus – und auf Disjunktionsebene ergibt sich immer eine bestimmte Differenz zwischen der Faktizität einer Erkenntnis mit seinen kategorialen Verstandesmustern und dem Sollprinzip einer Freiheit, die diese mittelbaren Setzungen – die aller-allgemeinsten Bestimmungen – auf die absolute, unerzeugte Positivität der Erscheinung des Absoluten bezieht und sie daraus ableitet und bildet. 

Noch zu Fichtes Lebzeiten kam mit Schelling und Hegel und Schopenhauer der Abfall von der transzendentalen Selbstreflexion und Selbstbesinnung des Wissens. Es kam zu folgereichen und gefährlichen realistischen oder idealistischen Verabsolutierungen. Das Absolute wurde zum Gegenstand einer Reflexionsphilosophie (genannt „Identität“) herabgezogen, wurde zum Mittelding zwischen negativer und positiver Philosophie (Schelling), zur bloßen Dialektik eines Begriffes (Hegel). Das Selbstbewusstsein des Vernunftwesens erzeuge selber die Vorstellung von Gott (Feuerbach), die materiellen Bedingungen schaffen das Bewusstsein (Marx) oder die Klassengegensätze (Lenin), das Unbewusste (Freud), die Evolution usw., das seien die letzten Einheiten und Begründungsinstanzen.  Es kam zu naturalistischen Alles-Erklärungen oder zur Geschichtlichkeit der Wahrheit (Heidegger). Das Transzendentale (oder die Transzendentalien) wurde(n) nicht mehr reflektiert.
Anders gesagt: Die Intuition und Intellektion eines
über-natürlichen, qualitativen Gehaltes oder einer entsprechende Licht- und Existentialform des Wissens, ein heiliger Wille, der sich im Vernunftstreben apriorisch und geschichtlich-positiv offenbart – er wurde bewusst-unbewusst nicht mehr gesehen und  abgeleugnet.  Die  nach letzten Bedingungen der Wissbarkeit und Begründungen und Rechtfertigungen des Wissens fragende Philosophie – wie sie ursprünglich aber angetreten  war – wurde aufgegeben mit theoretischen  und praktisch-sittlichen, schwerwiegenden Folgen. 2 

3) PLATON thematisiert in vielen Dialogen und Gleichnisse das apriorische Vorwissen, weil er um eine Letztbegründung des Sich-Wissens weiß.  Am schönsten vielleicht in der „Politeia“ 509b, wo er klar die Idee des Guten als Bedingung der Möglichkeit der (objektiven) Erkennbarkeit der Wahrheit und des (subjektiven) Erkenntnisvermögens, mithin auch als Bedingung der Möglichkeit eines Sich- Wissens beschreibt – siehe Blog zur „Idee des Guten“. Ehe ich anderes Wissen oder endliches Wissen (oder Bilder des Wissens) haben kann, muss ich zuerst schon das Selbst-Wissen und das Wissen des Vollkommenen haben und sein, d. h. wahres und wahrhaftiges Wissen sein. Die Idee des Guten und der darin mitgegebene Wahrheit, die gut ist zu erstreben,  ist notwendig und in einem gewissen  unbegreiflichen Sinne als unerzeugte Positivität vorausgesetzt „jenseits des Seins“. Wahres Sein und Erkennbarkeit desselben in einer Erkenntnis der Erkenntnis  binden sowohl  ontologisches Denken wie gnoseologische Selbstreflexion zusammen.

Ähnlich zu PLATON – und in singulären Aussagen auch bei  ARISTOTELES  zu finden – wird dann 2000 Jahre später DESCARTES mit seinem „cogito, ergo Deus est“  die ontologische und gnoseologische Einheit zum Ausgangspunkt des Philosophierens machen. Die unbedingte Erkenntnis ist die Abgrenzungsbedingung jeder bedingten Erkenntnis.  Aber selbst dieses „cogito“ des DESCARTES wurde historisch verunstaltet, als handle es sich bloß um einen kognitiven, subjektiven Akt. Das „cogito“ meint aber reflexive Operation des Geistes (einer allgemeinen Vernunft in allen, von allen, zu jeder Zeit) im Sinne von „ich erwäge“ d. h.  im Sinne einer Gewissheit eines materialen Sittengesetzes, die auf alle Vollkommenheit verweist – siehe seine methodischen Zweifelsargumente und die Bewährung durch die „veracitas dei“.

Im Klartext   bei  PLATON – und 2400 Jahre nachgesprochen und nachvollzogen:

Dieses also, was dem Erkannten Wahrheit und dem Erkennenden das Vermögen (sc. zu erkennen) verleiht, sage, sei die Idee des Guten. Aber bedenke, dass sie (sc. die Idee des Guten) von Erkenntnis und Wahrheit, sofern diese erkannt wird, zwar Ursache ist, so wirst du doch, so schön auch diese beiden, Erkenntnis und Wahrheit, sind, nur richtig von diesem (sc. dem Guten) denken, wenn du es für etwas anderes und noch Schöneres hältst als diese beiden (sc. als Erkenntnis und Wahrheit). Wie dort (sc. im Bereich des Sichtbaren) das Licht und das Sehvermögen für sonnenartig zu halten zwar richtig ist, für die Sonne selbst zu halten, aber nicht richtig ist, so ist es auch hier (sc. im Bereich des rein geistig Erkennbaren) zwar richtig, diese beiden, die Erkenntnis und die Wahrheit, für gutartig zu halten, nicht aber ist es richtig, welches von beiden auch immer für das Gute selbst zu halten, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten einzuschätzen.“ (Platon, Polit., 508e1509a5).

Die unausgedehnte und auch zeitlose  vorausgesetzte Disjunktionseinheit der Seele,  in der die verschiedenen Disjunktionen von Idealität und Realität, von Denken und faktischem Sein, zusammenlaufen und als denkbare und erkennbare Teilrealisierungen hervorgehen – worin wir im weitesten Sinne wieder bei den „Transzendentalien“ des Mittelalters wären – Wahrheit, Einheit, Gutes, Schönes (als Eigenschaften des Seins und als Relationen des Erkennens zum Sein)  – ist eine höchste, transzendentalen Erkenntnisart, wie sie Kant angestrebt hat, aber nicht vollenden konnte. Es gibt ein höchstes Wissen, ein transzendentales Wissen einer höchsten Idee, begründet und gerechtfertigt in der genetischen Erkenntnis der Erscheinung des Absoluten. 3

4) PLATON hat die (absolut) vorauszusetzende Einheit  – ich will sie hier neben der „Idee des Guten“ disjunktionslose Wahrheit nennen –  genial und metaphorisch umschrieben. Man beachte nämlich die Schwierigkeit: Setzt nicht jede Bestimmung immer eine Differenz und Disjunktion voraus? Wie sollten dann die Möglichkeitsbedingungen der Bestimmbarkeit einer disjunktionslosen Wahrheit, d. h. die Bestimmbarkeit eines relationslosen Einen, formal bestimmt werden? PLOTIN legt sich  hier nahe.

Man kann nicht die Position eines Wissens jenseits des Wissens beziehen. Schelling und Hegel haben das Problem nicht einmal gesehen – und mit ihnen viele Leute bis heute, die unbedarft über das Absolute spekulieren  oder im Selbstwiderspruch ein Absolutes ablehnen und irgendein objektives oder subjektives oder gar materielles Vermögen voraussetzen. 

Es muss eine Einheit gesucht und gefunden werden können, die relationslose Einheit ist, die aber alle weiteren Relationen und Disjunktivitäten und gegensätzlichen Denkbestimmungen als solche in ihre Denkbarkeit und Wissbarkeit entlässt (genetisiert) – und gewusst werden kann  kraft des Lichtes und kraft des Bildens und Setzens und Sehens.

Ohne dieser relationslosen  Einheit bleibt man ewig in realistischen oder idealistischen  Teilverabsolutierungen des Wissensaktes befangen, und umgekehrt, ohne Öffnung dieser Einheit zu einer reflexiven, begrifflichen und bildlichen Einheit,  im „Existentialakt des Wissens“ (beispielhaft ein Begriff aus den „Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre“ 1805, Fichte),  in der Sichtbarkeit der  Erscheinung, in einem Urbild-Bild-Verhältnis, bliebe das Wissen ewig unbegründet bzw. das Sein unbegreiflich. 

Die disjunktionslose Wahrheit muss Kriterium, Einheits- wie Disjunktionspunkt des Wissens, analytische wie synthetische Einheit des Denkens, sein, wahres Bild-Sein des Bildes vom Sein.   Diese Einheit kann nicht bloß reduktiv zurück erschlossen und dann als faktische, unhintergehbare „Bedingung“ logisch (als Grund) supponiert werden, wie es die diskursiv verfahrende Vernunft in ihren Schlüssen auf die unbedingte Bedingung alles Bedingten notwendig tut.  KANT meinte, diesem dialektischen Schein kritisch beigekommen zu sein.4 Es bleibt aber bei KANT  die Schein-Lösung einer „regulativen Idee“  kritisch zu hinterfragen, denn wie könnte ein endlicher Verstand eine „regulative“ Idee trotzdem fassen?   Die Einheit muss vorlaufende Bedingung jeder weiteren Reflexionsidentität sein, ohne selbst wieder von dieser ihr folgenden Reflexionsidentität als deren Gegensatz gefasst und verobjektiviert zu sein. Das wäre wieder nur gedachte  Einheit als gedachte Andersheit. „Es ist dabei die Hauptsache, ein Ich an sich wegzubringen, und das Ich späterhin im Bildwesen, und aus der Sich-Bildung eines einfachen Princips zu erklären.“ (FICHTE, Transzendentale Logik, SW IX, S 133)

5) PLATON sah klar dieses allem Erfahrungswissen vorausgehende apriorische Vor-Wissen, oder was das Gleiche ist,  die transzendierende Idee der Einheit des Wissens, indem er die Idee des Guten „über das Sein hinausgehend“ beschrieben hat.
Historisch konnte PLATON diese Einheit nur theoretisch und abstrakt fassen, weil ihm die im Erkennen ebenfalls geforderte Sinnidee fehlte, eine  geschichtlich perzipierbare Sinnidee einer appositionellen Einheit, m. a. W. die biblische Offenbarung. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. Er schuf als  theoretisches Pendant zum biblischen Wissen  – eines personalisiert gesehenen und geglaubten Gottes –  das reflexive Begriffsinstrumentarium einer ideellen, deduktiven Einheit.  Was er dabei nicht sah und nicht sehen konnte,  dass in der „jenseits des Seins“  liegenden disjunktionslosen, ideell-deduktiven Einheit  des Wissens ebenso  real und geschichtlich und in concreto und in individuo  diese Einheit vollendet erscheinen muss können, um nicht  a) einem leeren Abstraktionsbegriff des erschlo
ssenen Seins des Guten anheim zu fallen und b) die existentiellen Fragen des Guten und Bösen und die geschichtlichen Vermittlungen und Verirrungen zu beantworten. 
Das bietet erst die positiven Offenbarung des christlichen Glaubens: die höchste Vollendung des Wissens ist die Ur-Bild-Erscheinung der platonischen Idee des Guten  in der historisch bedingten positiven Offenbarung von Vergebung und Sühne.  PLATON erfasste eine
 apriorische Gottes-Offenbarung im reflexiven Denken; ihm fehlte die zur apriorischen Sinnidee gehörende konkrete  Anschauung einer totalen Rechtfertigung und Liebe im Erkennen,  Wollen und Handeln. Er kannte die formale „causa exemplaris“, aber ihm fehlte das konkrete Urbild dieser lebendigen Wahrheit innerhalb der apriorischen Vernunftoffenbarung und innerhalb eines geschichtlichen Erklärungszusammenhangs. 

6) Beides zusammengenommen, platonische Vernunftwahrheit und biblische, positive Offenbarungswahrheit, negative Theologie und negatio negationis in der eröffneten, positiven Gottesrede, wie es die christlichen Mystiker oder die Propheten taten, wie JESUS CHRISTUS in seinen Worten und Taten die positive Gottesrede schlechthin verkörperte,  ergeben einerseits eine  Einheit  im Selbstbewusstsein und in der Reflexionsform,  andererseits eine notwendige Mannigfaltigkeit  in der Konkretion, in der Geschichte und in der Totalität der Wissensformen in einem unendlich ablaufenden Bewusstsein. Das Transzendentale ist virtuell geschlossener Vernunftbezug und  zugleich immer schon eröffnet zu einer reflexiven Erfassung des Konkreten und Geschichtlichen, beginnend mit der anderen Person, sich fortsetzend über ideelle und mediale Erkenntnis bis zur Erkenntnis des Sinnlichen und aller damit verbundenen Inkarnationen.  Die appositionelle, geschichtliche Erkenntnis lässt die logisch-implikative und  diskursive Begründung des Erkennens aus dem Sein (aus dem Transzendentalen)  erst sichtbar werden (was ist das Eine, Wahre, Gute, Schöne)  und umgekehrt, der absolute Geltungsgrund (das „Sein“)  ermöglicht und begründet das Sich-Setzen des Wissens (den Begriff des Begriffes) und das mannigfaltige Sehen und Erkennen und Wollen-in-actu in Zeitlichkeit und Sinnlichkeit.  Die sogenannte äußere Sinnen-Erkenntnis  (Temperatur, Geschmack, Geruch, Tasten, Sehen, Hören) ist bedingt durch den inneren Sinn apriorischen Vor-Wissens (die Phänomenalität der Freiheit in den Erscheinungen) – und das sinnliche Wissen und die kausalen Erklärungen sind bedingt durch die Aktualität einer übersinnlichen Freiheit. Die Perzeption sinnlicher Wahrnehmung, die Perzeption einer anderen Person, von Sprache und  Zeichen, schließlich die Perzeption eines reinen, heiligen Willens – und umgekehrt der Begriff zu diesern Phänomenalität durch und als Selbstbestimmung und Freiheit, das ergibt das Ganze transzendentaler Erkenntnis, d. h. Erkenntnis der Form der Anschauung  aus dem Geltungsgrund der Erscheinung des Absoluten. Das Transzendentale des platonischen Totalitätswissen (des qualitativen Seins-Wissen) ist bedingt durch das Konkrete der aktuellen Freiheit und Selbstbestimmung, und letzterer Begriff ist bedingt durch das apriorische Vor-Wissen dieses Vermögens einer Totalität.  

Anders gesagt: Die vernunftgemäße Realisation des transzendentalen Wissens ist sowohl eine zeitlose Reflexion des Wissens und des Selbstbewusstseins, aktuelle Freiheit,  erfolgt aber zugleich in zeitlichen, phänomenalen Schritten der Selbstbestimmung, insofern  das Bewusstsein/Selbstbewusstsein sich nur setzend und gesetzt werdend, bestimmend und bestimmt werdend, reflexiv und mittels Reflexionsideen, fassen kann, d. h. zeitlich und räumlich, sinnlich und intelligibel, und sich so im ständigen Werden begreift.

(c) 29. 10. 2015, Franz Strasser

1Siehe z. B. Historisches Handbuch philosophischer Grundbegriffe; oder Handbuch Ontologie, hrsg. v. Jan Urbich/Jörg Zimmer, Berlin 2020. Siehe entsprechende Lemmata, z. B. S 306. 

2Ich hörte zufällig in Linz einen Vortrag: „Das Absolute und das Subjekt“, Mainz 2008. Für mich war es ein Schock und wurde zum Anlass, nochmals die alten Skripten der Studentenzeit hervorzukramen. Insofern verdanke ich dem Vortrag sogar einen positiven Nebeneffekt des Anstoßes, diese verkappten Gottesleugner (wie Schelling, Hegel, Heidegger)  genauer zu hinterfragen und zu widerlegen!

3Als Erläuterung des ganzen Problemkomplexes siehe z. B. MARKUS ENDERS in: zur debatte, 1/2010, S 18-20, die Bedeutung der Seinsbestimmtheit der Ideen, d. h. was Wahrheit und Erkennbarkeit der Wahrheit heißen kann. „Wie schon bei Parmenides selbst und in der von ihm begründeten Philosophenschule der Eleaten fungiert Wahrheit bei Platon „als Inbegriff der erkennbaren, geistig fassbaren Wirklichkeit“ (J. Szaif, Art. Wahrheit, I. Antike, A. Anfänge bis Hellenismus, in: HWPH, Bd. 12, Sp. 49). Erkennbar gemäß der auf Parmenides zurückgehenden platonischen Bedeutung von Erkennen (νοεῖν), das ein sicheres Erfassen und definitorisches Bestimmen des Wesensgehalts eines Gegenstandes bedeutet, sind nach Platon nur die Ideen, d. h. die allgemeinen, transzendenten, immateriellen Wesenheiten aller geistig und aller sinnlich erscheinenden Entitäten. Dabei kommt den Ideen Seinswahrheit auf Grund ihrer Unvermischtheit, d. h. ihres Ausschließens des Konträren, und auf Grund ihrer Urbildhaftigkeit zu, in der ihre Normativität für die Beurteilung der Einzelfälle im sinnenfälligen Bereich begründet liegt (hierzu vgl. genauer J. Szaif, art. cit., Sp. 50). (…)

4In der KpV ist es ziemlich zu Beginn auf der Suche nach einem formalen Unbedingten so ausgedrückt: „Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem speculativen oder praktischen Gebrauche betrachten; denn sie verlangt die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, und diese kann schlechterdings nur in Dingen an sich selbst angetroffen werden. Da aber alle Begriffe der Dinge auf Anschauungen bezogen werden müssen, welche bei uns Menschen niemals anders als sinnlich sein können, mithin die Gegenstände nicht als Dinge an sich selbst, sondern bloß als Erscheinungen erkennen lassen, in deren Reihe des Bedingten und der Bedingungen das Unbedingte niemals angetroffen werden kann, so entspringt ein unvermeidlicher Schein aus der Anwendung dieser Vernunftidee der Totalität der Bedingungen (mithin des Unbedingten) auf Erscheinungen, als wären sie Sachen an sich selbst (…)“ (KpV 107) Das ist aber nur ein reduktiv gewonnenes Argument und erreicht nicht die Begründungsebene eines PLATON.

Platon, Glyptothek München.
J. G. Fichte, Bild in der Humboldt-Universität in Berlin

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser