Dieter Mersch, Epistemologien des Ästhetischen – ein Kommentar.

Dieter Mersch, Epistemologien des Ästhetischen, Diaphanes-Verlag, Zürich-Berlin, 2015.1 Eine inspirierende Lektüre. 

Meine Frage ist: Kann ich die Kunst, die ich hier synonym mit Ästhetik gleichsetzen möchte, sofern die (literarische, bildnerische, musikalische) Anschauung in konkreten Erkenntnisprinzipien verarbeitet ist – D. Mersch differenziert Kunst und Ästhetik, ebd. S. 17 – tatsächlich als eine eigenständige Erkenntnisform im Unterschied zum begrifflichen Denken betrachten?

Kunst/Ästhetik und Denken spielen in ihrer Genesis sehr eng zusammen – und insofern interessierte mich diese Behauptung, oder Frage?, „Epistemologien des Ästhetischen“. Wenn ich unter „Epistemologie“ die logoshafte Erzeugung einer semantischen Relation oder Bedeutung verstehe, so müssten sich Kunst/Ästhetik und Denken strukturell gleich präsentieren, denn sie sind beide Male Gedachtes einer Vorstellung, das eine Mal mehr vom idealen, anschaulichen Konstruieren her betrachtet, das andere Mal vom realen gedanklichen Gebundensein dieses Konstruierens und der Vorstellung her betrachtet. Das eine Mal verliert sich die Kunst/Ästhetik in der (idealen) Anschauung der Freiheit, das anderen Mal wird in einem notwendigen gebundenen Denken ein realer Grund und eine Richtung dieser Freiheit vorausgesetzt.

Anders begründet: Kunst/Ästhetik und Denken begegnen sich durch Freiheit, d. h, sie sind notwendig aufeinander verwiesen, insofern a) die ideale Anschauung im Lichte (im Schweben der Einbildungskraft) eines gedanklichen Punktes der Richtung bedarf, und umgekehrt b) die Richtung einer Form der Quantitabilität und Bestimmbarkeit bedarf, d. h. überhaupt einer Anschauungsform und einer Richtungsmöglichkeit.

1) Den apriorischen Bedingungen des Bildens entkommt niemand, nicht das ästhetische Anschauen und Zeigen, nicht das begriffliche Denken.

Ein Fehler in der spontanen Vorstellung der Einbildungskraft ist nach den Gesetzen des Bildens nicht möglich, aber das begriffliche Verstehen und Deuten von Anschauungen, Wahrnehmungen bzw. das Deuten eines Artefaktes, eines Wortes, eines Kunstwerkes, ist relativ auf Wahrheit bezogen, ist irrtumsanfällig und von Vorurteilen besetzt.

Ästhetisches Tun (Vorstellen) und gedankliches Tun sind aufeinander bezogen, wechselseitig, und die Wechselseitigkeit verläuft so lange, bis das Denken  einen zureichenden Grund gefunden hat. Der Vorstellungstrieb wird qua Vorstellung aber immer befriedigt. 

Ich suchte nach einer Erklärung dieser Wechselseitigkeit und fand sie in einer für mich sehr scharfsinnigen Analyse bei K. Hammacher. 1

Der Handlungszusammenhang des Vorstellens, der von einer durch Regeln gebundenen Einbildungskraft geleitet und bestimmt wird, und der Gedankenzusammenhang eines begrifflichen Erkennens, das wiederum ein  erneutes Vorstellen ist, ist ein Wechselspiel der Kräfte und Vermögen.

2) Ich möchte  hierfür auf Fichtes Aussagen zu „Bardilis Logik“ aus dem Jahre 1800 (GA II, 5) verweisen:

Fichte hat den Idealisten und Materialisten seiner Zeit – oder der Logik eines Bardili (ca. 1800) – oft nachgewiesen, dass unwillkürlich ein einzelnes Objekt gedacht werde ohne ein zweites Objekt im ästhetischen Nebeneinander zu denken. Leicht irrt hier das nur begriffliche Denken, wenn es meint, ohne ästhetische Anschauung und Zuordnung auskommen zu können.
Umgekehrt gibt es
aber gar kein nur ästhetisches Nebeneinander, wenn nicht die Dimension des übergehenden Willens mittels eingeschauter Partien des Werdens im Verstand begrifflich fixiert und gedacht würde. Das Denken kann aus dem Übergehenszwang der Anschauung – worin die Einbildungskraft nach gebundenen Regeln eine Anschauung erzeugt – aussteigen und mittels Verstandesformen Sinngehalte fixieren und mittels Reflexionsformen die Richtung des Werdens umkehren und einen begründeten Erkenntniszusammenhang herstellen. Es  kommt zu „Analogien“ (KANT) der  Erfahrung und zu Umkehrbegriffen wie Bewegung, Zweck, Organisation. 

Bei genauerer Selbstbeobachtung des Vorstellens und Denkens kann auffallen – ich zitiere frei nach K. Hammacher, ebd. S 243 – 246:

a) Vorstellen und Denken gehören beide zum Bereich des Gedachten. Das begriffliche Denken, das in seiner eigenen Reflexion das Vorstellen analysieren will, um zu einem zureichenden Grund zu gelangen, vergisst dabei den Tatcharakter des eigenen Vorstellens, den das lebendige Schweben der Einbildungskraft nach ihren gebundenen Regeln der Anschauungskonstitution bildet und gebildet hat. 

Das Denken holt nicht die reine Tat des Vorstellens und den Modus des Schwebens der Einbildungskraft ein, sondern deutet das auf das Schweben der Einbildungskraft rück-beziehende Reflektieren zu einem neuen Erkenntniszusammenhang um. Es hebt die noch nicht zum Verstandesbewusstsein gelangte, implizite Sinn-Bedeutung der ursprüngliche Vorstellung auf (nicht der Existenz nach), um durch Reflexion eine Bedeutung zu vergeben und einen zureichenden Grund anzugeben. Im Denken verhüllt sich aber wiederum das eigene Tun der Reflexion. Es holt nie das ganze Schweben der Einbildungskraft ein, die das Denken selbst tragende und ermöglichende Vorstellung der Einbildungskraft. Oder anders gesagt, das ermöglichende Vorstellen geht nicht vollständig im Gedanken auf, es bleibt ein darüber hinausgehendes Handeln. Fichte hat es oft so ausgedrückt: Es gibt einen Widerspruch zwischen Sagen und Tun.

Die Beobachtung unseres Begreifens (sc. Sagens), wenn wir eine Erkenntnis gewinnen, bestätigt, daß dies gerade geschieht im gedanklichen Zusammenschluß, wobei hingegen die Tätigkeit unseres Denkens nicht beachtet wird und das Bewußtsein von ihr auch kein Moment in der Richtigkeit einer Einsicht darstellt (sc. vom Tun).  Es ist vielmehr für die Richtigkeit einer Erkenntnis völlig gleichgültig, daß beim Denken dieser Richtigkeit etwas in mir vorging.“ (K. Hammacher, ebd. S 244)

b) Das Umgekehrte gilt aber auch, zumindest teilweise: Die Tat kann nicht das Ganze, das Wesentliche des Gedankens fassen. Und selbst wenn, hypothetisch formuliert, eingeräumt würde, dass die Tat das Wesentliche des Gedankens fasst, so wäre es z. B. unzulässig anzunehmen und leicht erkennbar, dass eine angesetzte Veränderung oder Handlung (eine Tat) schon eine Erkenntnis herbeiführen müsste.

K. Hammacher bringt das Beispiel: „Wenn ich z. B. jetzt den Gedanken fasse, in diesem Raum sitzen so und so viele Personen, und frage mich nach diesem Fassen des Gedankens, so finde ich nicht nur, dass die Tätigkeit meines Erfassens für die Erkenntnis der Anzahl der Personen unwichtig ist, sondern zugleich, dass ich diese Tätigkeit im Fassen des Gedankens gar nicht erkennen kann. Wende ich mich nämlich jetzt in einer ausdrücklichen Reflexion auf dieses Fassen des Gedankens zurück, so liegt die gesuchte Tätigkeit, die den Gedanken trägt, im Vollzug dieses neuen Gedankens, dieser Reflexion, denn es soll ja die Tätigkeit im Gedanken gefasst werden, allgemein, nicht aber ein vergangener Denkvorgang.“ (ebd., S 245)

Eine Erkenntnis oder ein geistiger Erkenntniszusammenhang stellt sich ein, trotzdem de facto die Tätigkeit des eigenen Vorstellens nicht eingeholt und gefasst wird. Es muss selbst bei Verhülltsein des eigenen Handlungscharakters, eine unabhängige Tätigkeit des Erkennens geben, die einen gedanklichen Zusammenschluss von Tun einer Vorstellung und Denken dieser Vorstellung erlaubt, und die gegenseitige Wechseltätigkeit ermöglicht und begründet. K. Hammacher nennt es das Gewissen.

Die Handlung des Vorstellens und Vorgestelltseins ist bleibend vorhanden, aber es ist auch, wie K. Hammacher sagt, ein „Spielraum“ (ebd. S 245) gedanklicher Möglichkeiten gleichfalls vorhanden. Ein geistiges Vernunftwesen erklärt sich etwas  gerade so, dass es einen gedanklichen Zusammenhang setzt, obwohl es nicht um das eigene Tun des Vorstellens vollständig weiß und das Erscheinen eines möglichen Zusammenhangs sich nicht erklären kann.

Wir wollen das nachzuweisen suchen, indem wir die uns oben aufgefallene Entbundenheit des gedanklichen Zusammenhanges von der Rücksicht auf die Tätigkeit in ihm, den Spielraum, den er damit hat, näher betrachten. Der Gedanke findet sich dabei in bestimmter Weise herausgenommen aus der Wirksamkeit eines Tuns. Das zeigt sich daran, dass er um sich als „bloßer“ oder „reiner“ Gedanke weiß. Trotz der Lückenlosigkeit der Motive, in der sich uns bei genauer Untersuchung alle Handlungen darstellen, wissen wir sie aber doch von der Lückenlosigkeit einer bloß gedanklichen Kette von Folgerungen zu unterscheiden.“ (ebd. S 245)

3) Die Frage kann jetzt heißen, wenn ich „Epistemologien des Ästhetischen“ lese, wie die Handlung des Vorstellens und Vorgestelltseins, woraufhin in spezifischen Sinne die Prinzipienerkenntnis der Kunst und die Ästhetik abzwecken, aber auch das reflektierende Denken, was natürlich ebenso einfließt,  so unterschieden und verglichen werden können, dass sowohl eine Art Sich-Zeigen des ästhetischen Vermögens, als auch ein diskursives, gerechtfertigtes, gewissenhaftes Denken gleichzeitig möglich sind, ja möglich sein muss.
M. a. W., die Handlung des Vorstellens und des Vorgestelltseins, sozusagen die Stärke und Domäne der Kunst und der Ästhetik, und die begriffliche (gedankliche) Erkenntnis – wie können sie unterschieden werden, in welchem Sinne – und wie hängen sie durch zureichende, gewissenhafte Gründe zusammen? Ergänzen sie sich, korrigieren sie sich, ersetzen sie sich?

Vorläufig soll die Antwort gegeben werden: Das Gewissen ist die Instanz, die das kritische Verhältnis zwischen ästhetischem Vorstellen und denkerischem Bestimmen auf einen bestimmten Erfahrungs- und Lebenszusammenhang, mithin auf einen Natur-, Logos, Geschichts- und Sinnzusammenhang hin öffnet.

Dies sei noch näher expliziert:

4) Das Schweben der Einbildungkraft (Fichte, GWL, § 4) verarbeitet die sinnlichen und interpersonalen Momente der auf sie treffenden Hemmungen bzw. Aufrufe zu einer Subjekt-Objekteinheit der Anschauung; diese Anschauung ist selbst nur möglich dank eines übergehenden Willens und eines darin einzusehenden absoluten Bestimmungsgrundes, der das ganze Vorstellen und Schweben der Einbildungskraft  in einem selbst unwandelbaren Modus trägt und erhält und darüber hinaus eine Zeitreihe und räumlich-plurale Linien und Flächen ermöglicht.  Der eigenständige, spontane Tatzusammenhang der Einbildungskraft ist bereits vorbestimmt und triebhaft vorgegeben, sobald auf etwas bezogen wird, d.h. als Gefühl und als Objekt des Triebes der sinnlichen oder geistigen Natur, aber noch durchbestimmt, sondern als gewissenhafte Aufgabe zu einem Gedanken-Zusammenhang auszubauen. Auf  einen unwandelbaren formalen Modus des Denkens wird das Vorstellen und Anschauen  der Einbildungskraft bezogen, d. h. auf eine begriffliche Einheit, und umgekehrt setzt das (reale) Schweben der Einbildungskraft in seiner ganzen Regelhaftigkeit den Verstand und das Denken erst in die Lage, das Gesehene zu verstehen und zu beurteilen und auf eine (ideale) Einheit hin zu beziehen und zu begreifen.

Hier in dieser streng gebundenen Einbildungskraft liegt also die eigentliche Sphäre für die intellektuelle Verantwortung bei ihrer Erstellung der Gründe. Die Spannung wird hierbei immer größer mit der wachsenden Vielfalt der gesehenen Möglichkeiten und die Gewissenserfahrung genauer. (…)“2

M. a. W., die gedankliche Durchdringung (und zeitliche und räumliche Zerlegung) eines sich auf das Vorstellen zurückbeziehenden neuen Vorstellens –  effiziert durch einen Willen, der auf einen höchsten Wert zurückgeht und diesen auch existentiell verwirklichen will –  muss der Bedingung der Möglichkeit nach  in jedem Anschauen und ästhetischen Anschauungsform enthalten sein, sonst könnte es, ohne dies gedankliche Durchdringung, keine bestimmte und konkrete Anschauung werden.

Fichte hat das wiederholt reflektiert: Das Wissen führt die  Sichtbarkeit schon mit, die Begriffenheit in einem konkreten Begriff. Warum überhaupt dieses Synthesis zwischen einem idealen, transzendentalen Hinausgehen der Einbildungskraft und Bildung einer Anschauungsform und Raumform und reales Erzeugt-Sein dieser Sichtbarkeit und Bestimmbarkeit – das wäre jetzt eine weitere Begründungfrage: Ich muss das hier auslassen und verweise auf die verschiedenen Stufen der Ableitung des Schemas überhaupt aus der Erscheinung des göttlichen Seins – siehe vorallem WL-1810, 1811 und WL 1812. 3

Es ist immer eine Synthese zwischen Vorstellen und Bilden und gleichzeitigem Denken dieser Vorstellung. Die begriffliche und willentliche Reflexion könnte nicht einsetzen, würde nicht die Einbildungskraft in ihrem Schweben die unerschöpfliche, geistige Quelle der späteren Begründung und Rechtfertigung für das Denken und Wollen in der Anschauung abgeben (bilden) und antizipieren, und umgekehrt gäbe es keine Form der Anschauung und Vorstellung ohne vorausgesetzte, gedachte „Quantitabilität“.

5) Das bloß begriffliche Denken holt dabei  das ursprünglichen Vorstellen nicht ein, wie oben gesagt wurde. Es bleibt ein  Gegensatz zwischen vorstellendem Handeln und Denken, zwischen Tun und Sagen. Durch das erneute Denken und begriffliche Erkennen mittels Gewissen kann die gedankliche Freiheit aber das Vorstellen  mit allen ihren bindenden Gesetzen und den in ihr erscheinenden qualitativen Sinn-Erfahrungen neu ordnen und neu bestimmen, d. h. dem Vorstellen und folgenden zeitlichen und räumlichen Vorgestelltwerden eine explizite verstandliche, begriffliche und logoshafte und geschichtliche Sinn-Bedeutung geben – und letztlich  eine Letztbegründung, will das Denken konsequent sein. 

Die Bedeutungsgebung hängt dabei von einem zweckgerichteten Denken ab, das notwendig im Reflektieren gesetzt sein muss. Es bezieht sich nolens volens auf eine befriedigende Vorstellung von etwas –  und letztlich auf ein vorschwebendes Bild von Totalität oder Sinnidee, um die spontanen (und tlw. frei entstandenen) Vorstellungen und Anschauungen der Einbildungskraft zusammenzufassen und werthaft zu hierarchisieren. Das  tathafte, spontane Vorstellen der Einbildungskraft kann nicht immer im Schweben und in einer verstandlich nicht begriffenen Anschauung verharren, sondern bedarf des einordnenden, verstandesmäßigen und reflektierenden Denkens. („Anschauungen ohne Begriffe sind blind“.) Aus dem Schweben der Einbildungskraft will begriffene Anschauung und begriffene Erkenntnis werden, d. h. sie will auch spezifisch gedacht werden, sonst könnte es in seinem Sinn-Gehalt nicht verstanden und fixiert und konkret in seinem genetischen Werden hin zu dieser Faktizität einer Anschauung nach-gebildet werden. Das originäre Sich-Zeigen will genetisch begriffen und im Werden fixiert  (nachkonstruiert) werden, sonst wäre es nicht sichtbar und könnte ein Sich-Zeigen gar nicht sein. Umgekehrt wären die Begriffe leer, gäbe es nicht dieses konstruierende Anschauen und Schematisieren. 4

Die kritische Anfrage des Buches sehe ich in diesem kritischen Vorbehalt der Kunst gegenüber vorschnellem Denken und Einordnen: Wird mit einem gedanklichen (begrifflichen) Vorstellen nicht die Bedeutung des originären  Sich-Zeigens von etwas gerne verdreht und verfälscht? Werden die Begriff unangemessen gesetzt, d. h. sophistisch, willkürlich, künstlich, nicht genetisiert aus den Gesetzen der Einbildungskraft oder der dahinterstehenden künstlerischen Idee, sind sie ohne tieferen Wahrheitsgehalt und bloße Behauptungen. Es sind dann leere Begriffe,  bzw. nicht abgeleitet aus einer erneut geschauten Idee der  Bild-Wirklichkeit mit objektivem Wahrheitsgehalt.  

6) Eine Epistemologie des Nur-Ästhetischen scheint mir  nicht möglich zu sein, wie umgekehrt, eine nur begriffliche Bewältigung des Ästhetischen.

D. Mersch fragt in diesem Zusammenhang an, ob die denkerisch-begriffliche Bewältigung der Vorstellung und der ästhetischen Anschauung in der Rezeptionsgeschichte von Kunst und Ästhetik nicht stets überbewertet worden ist? Kunst und Ästhetik mussten gegenüber der begrifflichen Einordnung und Bedeutungsgebung oft zurücktreten? (ebd. S 13)

Ich würde weder von einer Epistemologie des (nur) Ästhetischen, noch einer (nur) des Begriffes und des Verstandes sprechen, sondern von einer Epistemologie der Bildlichkeit überhaupt, weil die sinnbildenden Formen des Verstandes mit den Anschauungsformen der Ästhetik  zugleich gebildet werden (aus dem Substrat des Schwebens der Einbildungskraft und dem Akt freier Selbstbestimmung – nach WLnm.) 

Das begriffliche Denken, zum freien Reproduzieren befähigt, bedarf irgendwann der Angleichung und Abgleichung mit der durch das Schweben der Einbildungskraft erzeugten Anschauung und Mannigfaltigkeit, um einen wahren Geltungs-Anspruch zu erheben und einen Erkenntniszusammenhang herzustellen.
Das Umgekehrte gilt aber ebenfalls: das ästhetische Vorstellen bedarf irgendwann eines begrifflichen Grundes und einer verstandlichen Fixierung, um verstanden und in seinem zeitlichen und räumlichen Werden sichtbar zu werden. Anschauung und Denken sind Darstellungsverhältnisse der Bildlichkeit und Darstellungsprozesse des Bildens.

7) Da die gebundene Einbildungskraft in ihrem Schweben und ihrer Anschauung die Existenzgrundlage des begreifenden Verstandes und des Denkens ist, wird es jetzt eine Gewissensfrage, im Denken und durch das Denken Rechenschaft abzulegen über das Schweben und das noch unbestimmt gefasste Was im Rückbezug des denkerischen Vorstellens. Es gibt, so lese ich den Aufsatz von K. Hammacher, eine Rechenschaftspflicht des Denkens über den gnoseologischen und ontologischen Status z. B. eines Punktes „C“ (oder eines empfindbaren Zustandes „c“), d.h. eine Rechenschaftspflicht im Urteilen und Entscheiden.

Angewandt auf die Fragestellung von D. Mersch: Ein ästhetisches Kunstwerk (sei es auf Seiten des Produzenten oder auf Seiten des Rezipienten) kann nicht  auf Dauer bloßes Phantasieprodukt sein oder will das nicht sein, sondern durch die Gesetze der Einbildungskraft und durch das begreifende Denken wird nolens volens eine gebundene zeitliche Reihe aufgebaut  und der absolute Bestimmungsgrund des Wollens wird sichtbar und realisiert in einem zeitlichen Werden. (In Literatur, Ästhetik, Musik usw.)

Dass mit dem Dass eines Sich-Zeigens noch kein Was des Sich-Zeigens gesetzt sein könnte, ist m. E. somit nicht denkbar, weil mit den Bedingungen der Wissbarkeit einer Anschauung bereits  eine Faktizität des Angeschauten und ein mitlaufend, genetisches Wissen um das Gewordensein des angeschaut Vorgestellten gesetzt ist.
Das reflektierende Denken vermag und muss aus praktischen Gründen
immer das Sich-Zeigen von etwas in der Erscheinung – im Modus des Schwebens der Einbildungskraft und kraft dieses Modus zu einem genetischen Faktum umgestalten und vernünftig  durchdringen, d. h. die Vernunft bildet in intellektueller Anschauung das Transzendieren der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft zu einem realen Aus-sich-erzeugt-sein aus der Erscheinung des Absoluten (genetisch) nach. Im Idealgrund der freien, unendlichen Richtung und Selbstbestimmung verliert sich das Ich in der Anschauung, im Denken der Anschauung ist umgekehrt das Ich bedingt durch die bestimmte Anschauung und Richtung.

8) In der Kunst und im Kunstwerk ist die hermeneutische Abstraktion auf die Anschauung vielleicht freier, weiter, vielfältiger, aber sollte eine Aussage darüber getroffen werden, was mit dem Was dieser Vorstellung (eines Bildes, einer Musik, einer Architektur) gemeint ist – und diese Genese legen wir in jedes Verstehen hinein – so wird das Schweben der Einbildungkrafts (die Anschauung) durch Denken (hoffentlich gewissenhaft) bestimmt.

Von einer eigenen Erkenntnisform des Ästhetischen zu sprechen, wie es vielleicht? Dieter Mersch will, (da bin ich mir nicht ganz sicher), scheint mir nicht möglich. Selbst diese Abstraktion einer „Erkenntnisform des Ästhetischen“ ist bereits begrifflich bestimmt und von vernünftigen Begriffen durchsetzt.

Eine gewisse Eigen-Berechtigung des ästhetischen Denkens möchte ich aber insofern begrüßen, da ja das Denken Rechenschaft zu geben genötigt ist – im Gewissen! – , ob das Schweben der Einbildungskraft und die Formen der Anschauung in einem gegebenen Fall  gut und richtig und sinnvoll getroffen sind. Das Denken ist hier in Verantwortung genommen, denn auch eine künstlerischen Darstellung offenbart etwas Prinzipielles, nicht in abstracto, wie die Philosophie, aber in concreto der Ästhetik.

Kommt das Denken nicht zu einer gewissenhaften Begründung ihrer Aussagen und Vorstellungen, ist wohl die Kunst und Ästhetik berechtigt, ein korrigierendes Gewissen und sittlich-praktisches Urteil abzugeben.  Dieter  Mersch bringt ein paar Beispiele – siehe dort, z. B. S 41, „Say it isn‘t so“ v. John Isaac, oder „3 stoppages étalon“ v. Marcel Duchamp, worin die Hybris der sogenannten „Wissenschaft“ kritisch hinterfragt wird. (Gefällt mir!)

9) M. a. W., hypothetisch herausgehobene, ästhetische Formen und hypothetisch davon unterschiedene Formen des Denken teilen sich die gleiche Gattungsart einer unendlichen Teilbarkeit und Quantitabilität des Raumes und der Zeit. Sie sind in concreto des Handelns und des Denkens aber nicht nur hypothetisch veranschlagt, sondern assertorisch oder apodiktisch oder vielleicht sogar kategorisch – bei vollkommener Gewissheit – vereint.

Das weiterbestimmende Denken in der Teilbarkeit des Konstruierens und Schwebens kann eine Viefalft der Interpretation annehmen, bleibt aber an das Schweben der Einbildungskraft gebunden.

D. Mersch beschreibt z. B. den „Stierkopf“ von Pablo Picasso, 1942,(ebd. S 187 – 191). Der „Stierkopf“ endet in einer großen Vielfalt formaler und mythologischer und geschichtlicher Konnotationen und Ideen. Die schlichte ästhetische Form vermag sich durch Denken zu einer assoziativen, breit ausladenden Idee heranzubilden, zu einer weit über die schlichte Form hinausgehenden, zeitlichen und räumlichen Begrifflichkeit einer  wesentliche Aussage.

Das Beispiel dieser ästhetischen Kunst offenbart geradezu zwingend, eine epistemologische Einheit von Anschauung und Denken vorauszusetzen. Die Anschauungsformen wären nicht denkbar ohne Denken und umgekehrt, das begriffiche Denken nicht ohne diesen ästhetischen Anschauungsformen. Das Kunstwerk wird zu einem initialen Anfang, „Symbol“, zu einer Performanz vieler Ideen, weil es in der gebundenen Einheit der Einbildungskraft  das Denken inspiriert und ermöglicht – und umgekehrt wird dieses im Denken angeschaute Kunstwerk (ein Raum, eine Zeitform, ein Konstruieren, ein denkbares Licht) zu einem konkreten Anfang, zu einem Wert, zu einer Wahrheit.

10) Kunst denkt anders, ja, wenn es ein eingefahrenes, konservatives Denken aufbricht zu neuen Vorstellungen, zu neuen Sinngehalten, zu freien Vorstellungen, zu neuen Zusammenhängen; Dieter Mersch ist für diese Herausarbeitung des Gegensatzes wie ich den Schlusssatz interpretiere: „Nichts ersetzt darum die unmittelbare Konfrontation und die Auseinandersetzung mit der Praxis der Künste und der ihr innewohnenden Epistemik, der Alterität ihres <Denkens>.“ (ebd. S 200)

Kunst denkt gleich, so möchte ich ergänzen, weil die transzendentallogischen Gesetze des Sehens und des Schematisierens von selbst übergehen zu einem realen Gedachten eines Erzeugt-Seins der Anschauung (aus der Quantitabilität und Bestimmbarkeit und Sichtbarkeit)

Das Sich-Zeigen der Kunst, diese von D. Mersch favorisierte, beschriebene Alterität?, ist genauso ein einheitliches, eine bestimmte Richtung nehmendes Denken im Dienste möglicher Selbstbestimmung und Freiheit.

Kunst und Denken mag man kurzfristig unterscheiden, sie kommen im konkreten Konstruieren und lichthaften und willentlichen Übergehen und Anschauen aber zusammen, weil genetisch ideales Konstruieren und reales Erzeugtsein aus der Bestimmbarkeit und Sichtbarkeit auf einen Geltungsanspruch verweisen, auf das Sollsein von Freiheit.

Zum eigentlichen Begriff einer Epistemologie, wie ich den Begriff „Epistemologie“ verstehe, nämlich als   Epistemologie der Bildlichkeit der Anschauung und des Begriffes zugleich, dazu möchte ich weiter verweisen auf M. J. Siemek. 5

© 11.12. 2019  Franz Strasser

1K. Hammacher, Das Fundament der Ethik. Zur Bestimmung des Gewissens. Philosophisches Jahrbuch, 76. Jahrgang, 243 – 256, 1968/69.

2K. Hammacher, ebd., S 255.

3In den spätern Wln Fichtes kommt der Begriff der „Sichtbarkeit“ ausdrücklich thematisiert vor: Z. B. WL 1810: Noch über der SeinsForm des Princips. Es ist selbst auch nur in der Sichtbarkeit. Außer der Sichtbarkeit eben nichts. Es ist nur im Schema seine selbst. Daß dieses nur wirklich ein Schema sey. Eben indem das Leben der möglichen Anschauung fixirt wird, wird es ertödtet. Wie und auf welche Weise es doch lebe, wird sich finden.
1.). Die Erscheinung schlechtweg ist
seine Sichtbarkeit. Die Sichtbarkeit ist. 
2.) nun muß das Sichtbarmachen wieder sichtbar werden.“ (GA II,11,  323)

4Fichte hat wiederholt diesen Prozess zum Bildwerden beschrieben. Nur als Beispiel Diarium I von 1813: „Diarium I, S 259 Z 22ff u. S 260: ad. 1.-. Durch das Denken, wie es eben beschrieben ist (einer zeitlosen Substanz***1) wird gesezt eine Bildhabendes, in dem Anschauungsbilde: dieses zugleich als reales  [Fortsetzung der Anmerkung:] Princip deßelben Bildes. Diese Identität nun des Subjekts des Bildes, seines Bildes (im Denken) u. des realen Princips ist das Ich. – Diese Apperception geht aus (als durch aus individuelle, denn darauf kommt es an: -) von der Identität des Bildes (in dem Zugleichseyn des gebildeten der Anschauung) u. dem unmittelbaren Denken desselben: der Begriff schlechthin gesezt mit dem ersten Bilde; ohne dazwischen kommen- de Freiheit eines reflektirenden Denkens; also ein Begriff, der selbst einer Anschauung gleichgilt, indem er von ihr unabtrennlich ist. – Dies ist nun das individuelle, diese unmittelbare Anschauung des Zeitwerdens; deren Macher der Finder ist. -. In diesem Finder, u. Macher, u, Identität beider, liegt das individuelle, das unmittelbar angeschaute Ich. – .(…)

5MAREK J. SIEMEK, Bild und Bildlichkeit als Hauptbegriffe der transzendentalen Epistemologie Fichtes. In: Erich Fuchs (Hrsg.), Der transzendental-philosophische Zugang zur Wirklichkeit, Stuttgart 2001, 41-63. M. J. Siemek unterscheidet drei Stufen: der Begriff des Bildes, das Bild als Begriff und die Bildlichkeit selbst. Das Wissen als Bild erkennt sich auf dieser epistemologischen Stufe in seiner sinnstiftenden und sinnverstehenden Bildlichkeit. Die epistemische Relation wird eine epistemologische, das Wissen wird zum Bild des Bildes.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser