Genetische Erkenntnis – 2. Teil

J. Widmann hat in seiner Analyse der 16 möglichen Begriffsformen des Wissens in der WL 1804/2 von Fichte den Begriff der „Genesis“ durchdacht.1

In der 21. und 22. Stunde der WL 1804/2 von Fichte kommt der Begriff der „Genesis“ genau an den Stellen eines zuerst angenommenen „problematischen“ Solls vor, schließlich aber in einem vom transzendentalen Wissen bewährten Soll, sodass gesagt werden kann: „Ein Soll ist in seinem innersten Wesen selber Genesis, und fordert eine Genesis“. (21. Vortrag, SW X, S. 256).2

Das Soll ist „Selbstschöpfer“ (16. Vortrag SW X, S. 219) seines Seins, deshalb Genesis seiner selbst, aber ebenso mit dem Zusatz, „dass es Erzeugung von etwas fordert, das so, wie es postuliert wird, noch nicht existiert.“ „(…) Eine solcherart postulierte reale Existenz absoluter Einheit steht prinzipiell unter einer Bedingung: dass nämlich diese Existenz in bestimmter Weise erzeugt werde.“3

Fichte drückt dies so aus: Das Soll „sieht ein Princip: es erklärt daher kategorisch, das Sein nur unter Bedingung eines Princips gelten zu lassen, also nur genetisches Sein, oder Genesis des Seins gelten zu lassen“ (SW X, 256).

J. Widmann widmet den 4. Teil seiner Phänomenologie des transzendentalen Wissens dieser Explikation, was „Genesis“, „Energie“, „Gesetz“ und „Bild“ in ihrem apriorischen Sinn bedeuten.

Es stellt sich heraus: Alle Evidenz und Einsicht ist überhaupt nur möglich unter Voraussetzung einer vorausgehenden Genesis. Demnach ist das Wissen „absolut genetisch in Beziehung auf sich selber“ (SW, Bd. X, 21. Vortrag, ebd. S 257)

„Denn soll ein Wissen sein, so muss die Erzeugung dieses Wissens im actualen „wissen“ vorausgehen.“4

Das Grund-Folge-Verhältnis des Sich-Wissens und Sich-Bildens in Bildern und deren Negationen ist dabei selbst immer Teil-Abbildung der Erscheinung schlechthin, der Erscheinung des Absoluten. Aber dabei muss es nicht bleiben, sozusagen skeptisierend bei einer dauernden Negationsdialektik des Absoluten:

J. Widmann: „Dabei bleibt es nicht. Das ganze Grund-Folge-Verhältnis ist selbst innerhalb der Erscheinung abgebildet. Die Negation trifft in ihr nicht den ursprünglichen Grund, sondern seine Erscheinung. Um dies auszudrücken, muss die Folgeerscheinung des Positiven durch die Folgeerscheinung von dessen Negation komplementiert werden: (….)“ 5

„Der absolute Grund muss nicht an sich negativ ausgedrückt werden, sondern nur dann, wenn er mit der Erscheinung, bzw. die Erscheinung mit ihm, verglichen wird. Diese Vergleichung vollzieht sich ihrerseits innerhalb der Erscheinung: dort existiert der Widerspruch Einheit-Nichteinheit. Der Grund selbst ist von diesem Widerspruch disjungiert. Darum lässt er sich nur so bestimmen: er ist nicht Disjunktion in Einheit und Nichteinheit.“ 6

Die WL 1804/2, oder generell gesagt, alle Wln,  sind eine einzige Darlegung des Begriffes der Genesis, ohne aber bei einer negativen Projektion der Bildlehre auf das Absolute stehen zu bleiben. Das transzendentale Wissen erklärt ja gerade, wie es begrifflich zur Disjunktion und zum Widerspruch in seiner höchsten Form kommen kann, und zugleich, dass eine unwandelbare, absolute Güte und „der Gute“ im „Widerspruch zum Widerspruch“ erscheint.7

Alles Bilden und Begreifen ist Genesis, Genesis eines positiven Gewussten, wie das seines klaren Negats. Das absolute Eine (oder „der Gute“) steht dabei in seiner Unmittelbarkeit gar nicht in Frage, sondern nur seine mittelbare Erscheinung – und diese Frage stellt sich jetzt heraus als distinkte und bestimmte, mittelbare Erscheinung, als Frage der „Selbstbestimmung der Erscheinung.“8

Wollen wir die Erscheinung in ihrer Einheit begreifen, müssen wir sie in ihrem letzten Grund begreifen. Der letzte und höchste Erscheinungsgrund wird deshalb als Genesis begriffen. Denn nur, was eine „Folge“ zeitigt (generiert), ist ein „Grund“.

Dieser Nexus ist keine bloĂźe Indifferenz von Grund und Folge. „Er ist vielmehr des „GrĂĽnden“ der Folge in ihrem Grund – und zugleich das „Folgen“ aus dem Grund.9

Es kann diese Einheit in einem dreifältigen lebendige actus des Sehens gesehen werden (Grund, Folge, Nexus), oder mit ihrem bestimmten Anfang und Endpunkt in einem fünffachen Sinn.
„(…) fünffach ist die Synthesis, wenn die Genesis unter endlichem Aspekt betrachtet wird, dreifach, wenn auf ihre unbegrenzte innere Lebendigkeit gesehen wird.“10

J. Widmann fĂĽhrt die disjunktive Einheit der genetischen Einsicht (a) weiter zu den Begriffen b) Energie/Gewissheit, c) Gesetz des Sich-Vollziehens des Wissens und d) Bild-Einheit des Sich-Wissens.

Der genetische Begriff der Grund-Folge-Einheit kann dann nochmals objektiviert und zusammengefasst werden in vier primären  Evidenzformen: Natur-, Logos-, Geschichts- und Sinnevidenz. (Phänomenologie V, J. Widmann, ebd. S. 182 – 201). (Die 16 Grundterme der Evidenz sind dann als sekundäre Evidenzformen einzuordnen.)

Ich bringe diesen viel zu kurz geratenen Verweis auf J. Widmann deshalb, weil ich damit die selbstbezügliche Seite der genetischen Erkenntnis hervorheben will. Die Form der Erkenntnis ist hier nicht objektivistisch auf einen Gegenstand bezogen, sei es auf einen faktischen Gegenstand der Wahrnehmung oder auf eine Gegenständlichkeit eines Verstandes oder einer Logik (mit apodiktischer Notwendigkeit), sondern ist explizit Selbst-Reflexion des erkennenden Wissens in und aus Genesis. Dies ist ja der Anspruch transzendentalen Erkennens, die apriorischen Wissensbedingungen in allem Erkennen einzubeziehen.

Dies kann a) in der sittlichen Wertung des übergehende Willens bewusst werden, wie im 1. Teil schon ausgeführt, doch ebenso b) in der konkreten Applikation der primären Evidenzformen Natur, Logos, Geschichte, Sinn, wodurch die Evidenz in der konkreten Wirklichkeit generiert wird.11

Die Wahrheit der gefundenen, transzendentalen Evidenzbegriffe beweist sich und bewährt sich in der Konkretion. Die Wahrheit ist konkret in der Wirklichkeit – und im Vernunftgesetz des Sich-Bildens notwendig vorausgesetzt, sonst wäre ein Sich-Bilden gar nicht denkbar. Das Bild ist immer notwendig a) wahres Bild, sonst wäre überhaupt kein Bilden in der Wirklichkeit, und b) erschließt als solches erst die Möglichkeit der Objektivation der Wirklichkeit im Ganzen wie im Detail, d. h. eine Bild-Wirklichkeit in der Einsicht.
Nach J. Widmann fĂĽhrt das zu folgenden erkannten Konkretionen der Wahrheit: Ich-Wissen, Wesen, Liebe und Du-Wissen.12

Da ich hier auf den spezifischen Bereich genetischen Wissens in der Religion abzwecke, möchte ich den Ort der Genesis hier so ausführen: Das genetische Wissen des Grundes in seiner Folge führt zum Bild-Begriff der „Liebe“.
Der Begriff „Liebe“ ist dabei noch ein höchst unzureichendes Bild, denn natürlich setzt der Begriff „Liebe“ die Kenntnis und Erfahrung wirklicher Liebe voraus.13

Es soll mir hier nur um den Ort der Genesis gehen: Im Sichbilden von Wahrheit tritt der Ursprung der Liebe heraus – und ist als genetischer actus lebendige Selbstbegründung und Rechtfertigung des Wissens.
(Das ist im Grunde eine alte Tradition: Die „Idee des Guten“, die „noesis noesios“, das anselmsche „quo nihil maius cogitari non possit“14, oder die „veracitas dei“ von Descartes, die das reflexive, anscheinend unhintergehbare „cogito, ergo sum“ erst begründet.)

Wie der Begriff der „Wahrheit“ der Anfang ist bewusster objektivierter Wahrheitssetzung, so ist der Begriff der „Liebe“ die erste Objektivation der Idee von reiner Liebe in der bewusst gewordenen Erfahrung dieser Liebe.15

Wird von den beiden Bildern „Wahrheit“ und „Liebe“ als Bilder des absolute Geltungsgrundes abstrahiert, so bleibt der Begriff des „Anfangs“. Im Begriff des Anfangs (neben Wahrheit und Liebe) liegt eine konkrete begriffliche Voraussetzung, die den Anfang unterscheidet von einem absoluten Anfang der Genesis und mittelbar bestimmbar macht. Er ist damit nachkonstruierbar, und kann von der Freiheit des kontingenten Ichs nachkonstruiert, d. h. begriffen wird.

Das führt nicht zu einem Akt beziehungsloser und zufälliger Willkür, sondern hat einen unbedingten Wert für die Möglichkeit der freien konkreten Nachbildung des absoluten Sichbildens.16

Die Selbstbezüglichkeit und Reflexivität des genetischen Erkennens, worauf ich ja hinauswill, liegt somit begründet und gerechtfertigt in einem Nachbilden absoluter Liebe.

© Franz Strasser, Juni 2025

 

1J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2. Hamburg 1977. S. 123 – 132.

2 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 123.

3 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 124.

4 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 124.

5 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 128.

6 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 128.

7J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 129.

8J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 129.

9J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S 130.

10 J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 130.

11„Die Grenze (zwischen abstrakten Begriffen und Applikationsbereich der Wirklichkeit) ist durch die genetischen Grundformen der Evidenz (…) gesetzt.“ J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 202.

12J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 202-213.

13Siehe ebenfalls sehr deutlich beschrieben bei J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 207.

14ANSELM bleibt dabei nicht auf einer allgemein formalen Ebene stehen, um das Absolute als terminus a quo der Begründung und Geltung anzusprechen, sondern geht schrittweise zur höheren Evidenz einer werthaften Erkenntnis des Unbegreiflichen.
Das fichtesche Sollsein eines sich selbst begründenden Grundes ist ziemlich adäquat zum anselmschen „melius esse“, d. h. dass das höhere Sein des Absoluten in seinem Geltungsanspruch nicht mehr hinterfragt werden kann.

15Vgl. das ganz Kapitel zur Liebe. In: Die Grundstruktur, ebd. S. 206-209.

16Vgl. J. Widmann, Die Grundstruktur, ebd. S. 208.209.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser