Was ist genetische Erkenntnis – 1. Teil

Es ist mir immer schon eine Frage gewesen, wie lässt sich eine philosophische Wahrheit mit einer durch die Tradition bekannt gemachten Offenbarungswahrheit des Glaubens vermitteln. Von der Philosophie her ist die Aufgabe gestellt, Wahrheit zu erkennen und sie darzustellen; von der Religion und konkret der christlichen Offenbarungsreligion her gesehen, die Wahrheit ebenfalls zu erkennen und vor allem zu leben. Beide erheben den höchsten Geltungsanspruch. Wem ist zuerst zu folgen? Die Sache scheint mir eindeutig: Es ist eindeutig dem größeren geistigen Lebensvollzug des Glaubens der Vorzug zu geben, solange kein sicheres Wissen erreicht ist. Dies ist kein blinder Fideismus, sondern ein glaubensmäßig erfasster Wahrheitsvollzug. Der Glaubensvollzug ist selber ein Zugang zur Reflexion, ein durch Freiheit vermitteltes Wollen: nicht so sehr überhaupt reflektieren zu wollen (wie die Philosophie), sondern auf ein ganz bestimmtes, primäres Wissen reflektieren zu wollen, speziell auf die je eigene Evidenz des Sollseins der Wahrheit. Der Glaubensakt, inwiefern er nicht bloß Willkürakt sein will, impliziert dieses Evidenzmoment. Es gibt hier das schöne Wort von ANSELM: „Credo, ut intelligam“.
Es ist damit nicht gesagt, dass der Glaubensakt fĂĽr sich schon als Lebensakt zureichend bestimmt ist und genĂĽgen kann, – es gehört sicherlich noch mehr dazu! – aber im reduktiven RĂĽckgang der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkennbarkeit von Wahrheit spielt das Evidenzmoment des Glaubens eine konstitutive Rolle.

Die Frage soll aber jetzt weitergetrieben werden: Ist der Glaube an ein primär Gewusstes möglich, so muss auch das Wissen an ein primär Gewusstes möglich sein. Beide Akte des Geistes können sich nicht widersprechen, sie unterscheiden sich nur in der Art und Weise ihres Reflektierens. Wie es im Glauben ein Soll der Wahrheit gibt bzw. diesem Soll der Wahrheit durch Glauben entsprochen werden kann, so muss es im Wissen ebenfalls einen Begriff geben, der der Wahrheit entspricht bzw. in der Art und Weise der Evidenz des Wissens eingesehen und sekundärreflexiv eingeholt werden kann. Die WLn (pl.) Fichtes, die auf eine Letztbegründung des Wissens in und aus Wahrheit explizit ausgerichtet sind und diesen höchsten Rationalitätsanspruch einfordern und m. E. einlösen, heben den Glauben als solchen nicht auf oder wollen ihn nicht ersetzen, sondern bestätigen und begründen rational das glaubensmäßig-bestimmte, lebensmäßige Zurückkommen auf das Soll der Wahrheit.

Der Glaubensakt als solcher ist also gegenüber der Philosophie nicht defizitär einzustufen, ja oftmals viel wertvoller und tiefer begründet als irgendein hypothetisches oder faktisches Wissen der Philosophie – Sophistik in der Antike genannt.

Wenn aber der Glaube philosophisch und begrifflich durchdrungen werden will, muss er sich nolens volens auf den Rationalitätsanspruch einer Vernunft einlassen. Er kann das und muss deshalb seinen absoluten Geltungsanspruch nicht aufgeben. Im Gegenteil, er bedient sich der scharfen Begrifflichkeit der Philosophie, um seinen Geltungsanspruch zu begründen und zu rechtfertigen.
Wenn aber Philosophie „vollkommene Erkenntnis der Prinzipien des Ganzen der Wirklichkeit erstrebt und in der diese Erkenntnis gewonnen und vollzogen wird“ 1 so muss ihrerseits die Philosophie selbst diese glaubensmäßige Wahrheit und Tiefe des Glaubens zu erreichen versuchen. Diese „vollkommene Erkenntnis“ geht über alle faktische oder apodiktische Evidenz hinaus, weil sie Erkenntnis aus den apriorischen Wissensbedingungen selbst ist, d. h. aus dem sich selbst rechtfertigenden und begründenden Grund von Wahrheit und Gutsein. Die Philosophie wird, wenn sie vollkommene Erkenntnis in und aus Prinzipien leisten will, diese ihre eigenen Ursprünge und Genesis aufdecken. Sie kommt mit dem Glauben überein, eine Folgewirkung aus einem Geltungsgrund zu sein, d. h. das Wie ihrer Entstehung selbst evident einzusehen. Das Wie der Entstehung einzusehen heißt aber so viel wie, die Art und Weise ihrer Bildung selbst re-konstruieren und vollziehen zu können. Diese von Fichte oft beschriebene Einsicht in das Wie der Entstehung von Erkenntnis ist wörtlich „genetisch“ zu nennen. Sie zeichnet sich 1.) als höchste, sich selbst begründende Wahrheit aus, als sittliche Wertung, 2.) als reflexologische und egologische Wahrheit eines selbstbezüglichen und überprüfbaren Denkens (als transzendentale Wahrheit), und 3.) als zukunftsorientiertes Streben und Wissen, insofern alle Zeit- und Raumanschauung aus der Genesis ihrer Bildung abgeleitet werden kann. Was Zeit und Raum sind, ist in der Genesis ihrer Entstehung beschlossen und vollendet.

‚Ad 1) Die erste spezifische genetische Erkenntnis der Wahrheit und eines damit verbundenen Geltungsanspruches sehe ich in der Bildung eines sittlichen Wertes: Objektiver Wert und subjektiver Wert des Nachvollzuges sind in Synthesis vereint. Das Wollen und Handeln geht in das Gewollte und Gewusste eines sittlichen Wertes über und umgekehrt ist der sittliche Wert, die Liebe in ihrer höchsten Stufe, das Wollen und das Handeln selbst verändernd (zu Bedingungen der Freiheit), ist Genesis eines willentlichen Handelns und Genesis eines sich selbst treu bleibenden, unwandelbaren, durch sich selbst bestimmten Willens, der in die Zukunft weist.

In der sittlichen Wertung und Handlung wird die Bild-Einheit der Wahrheit nach einer Idee in Differenz erzeugt (genetisiert).

Unser Erkennen beruht auf der faktischen Voraussetzung, dass wir zuerst interpersonal, dann sinnlich  gegenständlich, Bilder des Seins produzieren und projizieren. Diese faktischen Voraussetzungen unseres (theoretischen) Erkennens bedürfen aber ihrerseits nochmals der Begründung und Legitimation in einem Wollen und Handeln. Mit welchem Recht werden die faktischen Voraussetzungen des Wissens getätigt? Es bedarf eines Sich-Wissens, das sowohl den ganzen Voraussetzungszusammenhangs der Bildobjektivationen weiß und kennt, aber, da aus dem Bildprinzip nicht ausgestiegen werden kann, die Möglichkeit dieses Sich-Wissens und Sich-Bildens gleicherweise einbezieht.

Dies ist ein transzendentales Wissen, das sowohl die Bedingungen der Wissbarkeit einbezieht, als auch die unmittelbaren Verwirklichungen dieser Idee (von Wahrheit, von GĂĽte, von Liebe und generell jede andere Evidenz) ableitet und bestimmt. (Siehe dann 2. Teil)

Anders gesagt: Die Einheit des Sich-Wissens oder Sich-Bildens beruht auf diesem Ideal der projizierten Einheit von Denken und Sein, als auch auf der Differenz in der faktischen Verwirklichung der Begriffe in ihren Bildern wie Negationen.

In der sittlichen Wertung eines höchsten, alles andere überragenden Wertes, verschmelzen Wollen-in-actu und bejahter, um seiner selbst willen gewollter Wert. Die Verwirklichung geht aus der Einsicht in den Wert hervor, wie umgekehrt der höchste Wert sich durch das freie Wollen und Wissen und Setzen realisieren will.

Diese Einsicht ist im wörtlichen Sinn eine hervorgehende, genetische Einsicht einer Einheit in Differenz, Bild-Differenz, reflexologisch gefasste Disjunktionseinheit von gesetztem Grund und abgeleiteter Folge.

Die Idee der Möglichkeit (und Wissbarkeit) reiner Einheit, d. h. einer unwandelbaren Einheit hinsichtlich ihres Wertes, ihrer Würde, ihrer Herrlichkeit, ist zugleich eine neue Erkenntnisse erzeugende, übergehende Einsicht in weitere Projektionen und Objektivationen. Die genetischen Erkenntnis begründet (affirmiert) oder negiert die faktischen und apodiktische Erkenntnis, weil in ihr freier Vollzug und angestrebter Wert eins sind. Sie ist als sittliche Wertung Synthesis, disjunktive Einheit einer Geltungsform – „Ich“ oder Icheinheit benennbar.

Diese Geltungsform beruht auf dem Voraussetzungszusammenhang einer Gesamtsynthesis der Erscheinung des Absoluten – und ist in ihren formalen Bildern und Negationen immer Teilrealisation (oder Negation) dieser Gesamterscheinung.

Diese relationale Einheit in der Geltungsform „Ich“/Ichheit gilt es als disjunktive Einheit in und aus einem absoluten Geltungsgrund festzuhalten. R. Lauth hat in diversen Aufsätzen zur Ethik auf mögliche idealistische oder realistische Einseitigkeiten hingewiesen: „Gewöhnlich meint man, aus dem genannten ontologistischen Vorurteil heraus, im Werten werde mit einem rein faktisch Existierenden sekundär GĂĽte, Wert verknĂĽpft. Die meistverbreiteten Vorstellungen sind: a) wir nehmen zu reinen Tatsachen sekundär subjektiv Stellung und geben ihnen axiologische Vorzeichen, die ihnen an sich nicht zukommen. b) Wir erfassen einerseits bloĂźe Faktizitaten, anderseits apriorische Wertmaterien, von den die Faktizitäten gegebenenfalls – aber so, daĂź ihr Sein davon nicht berĂĽhrt wird – gezeichnet sind. c) Wir geben den Faktizitäten durch unser Wirken eine der sittliche Norm entsprechende bestimmte rein faktische Form, die wir als ,gut‘ prädizieren. Die Trennung von Faktizität und Wert ist unhaltbar. “ 2

Ein Wert kann nicht von der Faktizität einer Natur ausgehen; aber auch nicht vom reinen Willen des Vernunftwesens, als könnte dies selber festsetzen, was Wert hat. Das Gute ist vielmehr die Mitte zwischen Aktivum und Passivum, ist Sich-Vollziehen des Guten, oder, noch konkreter, „der Gute“, der sein Dasein im sittliche Handeln ergreift. Für das Individuum ist das ein interpersonal- intellektiv-voluntativer Akt der Liebe und des gegenseitigen Anerkennens, gegründet und bewährt und garantiert in göttlicher Liebe.

Das Gute, oder konkreter gesagt, der Gute, wird vom Sehen und Reflektieren aus zum Sollsein. Es ist a) etwas ursprĂĽnglich Positives und b) von Seiten des Wollens aus nicht ein Gegensatz, sondern selbst ein Teil des Willens und Wollens.

„Dann aber kann Sollsein nicht mehr bedeuten, dass Gutsein der Realisation bedarf, – denn der Gute ist -, sondern umgekehrt, dass das Dasein der GĂĽte bedarf. Das Daseiende soll gut sein. Aber dies, weil im Guten etwas ist, das zugleich mit diesem Sein schlechthin sein soll und das wir umschreiben wollen als WĂĽrde, Hoheit, Heiligkeit. Der Gute ist nicht gleichgĂĽltig, sondern: sein Sein ist wert, es soll sein. Gutsein ist zeitĂĽberlegene und -unabhängige integrale Bejahung seiner selbst in seiner unendlichen sittlichen FĂĽlle. Eben wegen dieser UnerschĂĽtterlichkeit und Absolutheit des seienden Sollseins gibt es wahres und falsches sittliches Werten.“ 3

Zur weiteren Begriffsbestimmung von genetischer Erkenntnis siehe dann 2. Teil: Die Selbstbezüglichkeit des Wissens in dieser Erkenntnis und 3. Teil: Die Zukunftsorientiertheit und Hoffnung aus der genetischen Erkenntnis. Die philosophische vollkommene Erkenntnis kommt mit den Hoffnungsmöglichkeiten des christlichen Glaubens deshalb überein, weil genetisch im absoluten Geltungsgrund festgelegt ist, dass zu Bedingungen der Freiheit die absolute Vernunftwahrheit theoretisch wie praktisch erreicht werden kann.

© Franz Strasser, Juni 2025

1Ich finde diese Definition von R. Lauth noch immer am präzisesten und treffendsten, siehe zur ganzen Begründung in: Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München 1967, S. 35.

2R. Lauth, “Sittliche Wertung und Gutsein.” Zeitschrift Für Philosophische Forschung, vol. 9, no. 2, 1955, pp. 372–376, http://www.jstor.org/stable/20480784.

3R. Lauth, Sittliche Wertung und Gutsein, ebd. S. 375.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser