Von wem geht das Recht aus?

Die Legitimation von Recht und HerrschaftsausĂĽbung ist mir schon immer eine Frage gewesen.

1) Wenn in unserem österreichischen Verfassungsgerichtshof in Wien die goldenen Letter prangen: „Österreich ist eine demokratische Republik“ und „Ihr Recht geht vom Volk aus“, so ist darin viel verpackt an Herrschaftsbegründung und Herrschaftsausübung, eine gewollte Machtbegrenzung des Staates und ein Schutz des einzelnen, und doch stört mich diese eigenartige Konstruktion.

Die prinzipientheoretische Begründung, die aus der Methode eines Verfahrens kommen soll, nämlich durch eine irgendwie geartete positive Gesetzgebung (z. B. eines Parlamentes), das ergibt immer einen gefährlichen Zirkel. Das „Volk“, die „Herrschaft“, begründet das Recht – und der Staat, die Staatsvertreter, repräsentieren das Recht, und wechselseitig sind dann Souverän (das Volk) und Repräsentation begründet und abgesichert – und der einzelne, wo ist er dann noch zu finden und geschützt und kann er partizipativ an der Rechtsgebung teilnehmen? In Zeiten der Wahlmanipulatonen und der Kampagne und medialen Verführung ist schnell eine „Mehrheit“ versammelt – und diese darf dann entscheiden, was Recht ist? Oder ein einmal gewählter Repräsentant bündelt alle Macht in sich und darf ohne Rücksicht auf den einzelnen schalten und walten? Wir kennen das von den vielen Diktaturen der Erde. Sie hängen sich gerne ein demokratisches Mäntelchen einer einmal (manipulierten) Wahl um, geben sich als „gewählt“, und handeln dann völlig unabhängig vom „Volk“.

Es wäre zumindest ehrlicher und klarer zu sagen: „Alle Macht (nicht Recht) geht vom Volk aus“ – denn das wäre der kurze methodische Schritt von den einzelnen Bürgern zu den a) entweder dem Volk und dem einzelnen in seinem Grundrecht verpflichteten Repräsentanten mit ständiger Korrektur und Kontrollbedürfnis, oder b) zu einem nicht mehr dem Volk und dem einzelnen verpflichtetet Autokraten, also ein trauriges Beispiel, dass die Macht zwar vom Volk kam, aber dieser Ursprung ist im Autokraten abgeschnitten worden. 1

Aber natürlich sollte es nach positiver Rechtslehre und nach H. Kelsen bewusst so heißen „Das Recht geht vom Volk aus“ – weil man sich hier eine bessere Rückbindung und Sicherheit eines Schutzrechtes erwarten hat?!

2) In der Öffentlichkeit anlässlich 100 Jahre Verfassung gab es viele positive Meinungen dazu, was ich eher auf einen kritischen Gesamtsinn der Worte zurückführen möchte, aber buchstäblich kann ich mich nicht damit anfreunden.

Die österreichische Verfassung ist geradezu Vorbild geworden vieler andere Verfassungen von Staaten. (Siehe diverse Interneteintragungen z. B. unter https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesverfassung_(%C3%96sterreich)

Oder siehe zum Verfassungsgerichtshof https://www.parlament.gv.at/verstehen/kontrolle/verfassungsgerichtshof/index.html

Dazu noch ein Kommentare aus den Zeitungen: Anlässlich 100 Jahre Verfassung (1. Okt. 2020): Das Bundesverfassungsgesetz (B-VG) sei im Laufe der Zeit anscheinend von zu vielen Materien überladen worden – siehe „verwelkten Schönheit“: https://www.derstandard.at/story/2000120376604/verwelkte-schoenheit)

Ich las auch von großer Zustimmung – z. B. von Ewald Wiederin (siehe unter „Kommentare“ zu diesem Link). https://www.derstandard.at/story/2000120377260/die-schoenheit-der-bewaehrung?ref=rec

Das B-VG habe sich bewährt, das macht ihre Schönheit aus, „nüchtern und unterkühlt“. Er interpretiert die zwei Hauptsätze mit einem Vermerk auf H. Kelsen:

„Beginnen wir zu lesen, in Art. 1: „Ă–sterreich ist eine demokratische Republik.“ Der Akzent liegt auf dem Hauptwort, der Republik; die Demokratie ist eine BeifĂĽgung, die wie selbstverständlich daherkommt. Der zweite Satz, von Hans Kelsen geschrieben, erläutert den ersten: „Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Diesmal steht das Volk im Zentrum und das Recht an der Seite: Rechtsstaatlichkeit wird genauso wenig feierlich proklamiert wie zuvor die Demokratie. Die Pointe liegt freilich in dem, was fehlt, was ĂĽblicherweise in Verfassungen steht und wogegen der Satz sich wendet. Nicht alle Gewalt geht vom Volk aus, das Recht geht vom Volk aus. Das Volk herrscht zwar, aber durch das Recht und nicht mit Gewalt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind so miteinander verklammert. Herrschaft ist legitim nur durch Recht, Recht ist legitim nur als Produkt demokratischer Verfahren.

NĂĽchtern und unterkĂĽhlt

Es ist dieser nüchtern, unterkühlte Ton, es ist die Kongruenz von Form und Inhalt, die die Schönheit unserer Verfassung ausmachen. Dazu kommen ihr Alter und ihre Bewährung in der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass Alexander Van der Bellen die Schönheit der Verfassung und ihre Funktion als Kompass beschwor, als er eine ernste Regierungskrise zu meistern hatte. Seine Prophezeiung hat sich ein Stück weit selber erfüllt. Im Grunde ist jede Verfassung nur ein Blatt Papier, das aus sich heraus nichts zu bewirken vermag. Verfassungen leben von der Bereitschaft, nach ihren Regeln zu spielen, und wenn ihnen überdies noch Vertrauen entgegengebracht wird, dann bewähren sie sich auch, in aller Schönheit. (Ewald Wiederin, 1.10.2020)

3) Diese gegenseitige Interpretation und Ergänzung von Demokratie und Recht nach E. Wiederin ist eine wichtige Klarstellung und Interpretation. Denn je nach Denkakt der Bestimmung fällt die Begrifflichkeit anders aus und wird anders verstanden: Nimmt man „Demokratie“ als Totalität, als Allgemeinheit des Begriffs, als substantielle Einheit eines bestimmten Denkens von Wert und Würde jedes einzelnen, oder nur als Anschauungsform eines Inbegriffs, als eine Summe von Personen, die z. B. alle fünf Jahre zu einer Wahl gehen dürfen, wie die Autokraten dieser Erde die einzelnen Bürger nur als Menge und Masse gebrauchen?

NatĂĽrlich, so die Klarstellung im 2. Hauptsatz des B-VG Art. 1, „Ihr Recht geht vom Volk aus“, also fällt das Besondere einer „Demokratie“ unter einen wesentlichen Rechtsbegriff. Ja, so könnte ich es eventuell akzeptieren. Aber nur bei dieser Interpretation.
Das Wort „Volk“ insinuiert aber etwas anderes – und H. Kelsen ist nicht ganz frei zu sprechen, diesen Begriff exakt als Gegenüber zur Macht-Herrschaft einer
Monarchie zu sehen. Er versprach sich damit mehr Mitsprache und Transparenz.

Das Wort oder der Begriff „Volk“ war immer schon mehrdeutig.

Ich verstehe unter „Volk“ lediglich einen Inbegriff der Anschauung vieler Menschen, nicht die Totalität einer qualitativen Idee, aus der die Machtverhältnisse, oder gar das Recht, abgeleitet und kontrolliert werden könnten.
Vom „Volk“ kann kein Vertrag und Schutzvertrag und kein Urrecht
von jedem für jeden zu aller Zeit ausgehen. Ein „Volk“ ist nur der leere, abstrakte Bündnispartner (der „Souverän“) der Herrschaft, vorzüglich der Partner von Autokraten. Es ist doch verwirrend bis überhaupt widersprüchlich, wenn Ewald Wiederin oben sagen kann: „Nicht alle Gewalt geht vom Volk aus, das Recht geht vom Volk aus. Das Volk herrscht zwar, aber durch das Recht und nicht mit Gewalt.“
Eigentlich kann ich über diese Sätze nicht hinweg. Es sind die Begriffe falsch gesetzt: Eh klar, dass die Gewalt nicht vom Volk ausgehen darf, weil eben die Gewalt oder Zwangsherrschaft nur vom Recht ausgehen kann.
„Da
s Volk herrscht zwar“, das stimmt auch nicht, wenn es gegenüber einem Autokraten nur das missbrauchte Objekt ist und gar keine Mitsprache und kein Recht mehr einfordern kann.

Das „Volk“, das wahrscheinlich H. Kelsen nur im methodischen Sinne einer BegrĂĽndungsform von Gesetzgebung verstanden hat, ist prinzipientheoretisch nicht der Urheber des Rechtes! Bei den Prinzipien geht es um Prinzipien der Geltung von Sätzen; beim methodologischen Begriff um die Art und Weise der BegrĂĽndung der Geltung von Sätzen.2E. Wiederin fängt meine BefĂĽrchtungen dann kurzfristig ein “Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind so miteinander verklammert. Herrschaft ist legitim nur durch Recht“.

Aber im nächsten Augenblick bringt er wieder alles durcheinander: „Recht ist legitim nur als Produkt demokratischer Verfahren“

Die Legitimation kann gerade nicht durch das Verfahren kommen, sondern das Verfahren selbst muss bereits den Prinzipien eines Urrechts und einer genetischen BegrĂĽndung des Rechts folgen.

Offensichtlich mag es fĂĽr den damalige Sprachgebrauch 1920 – fĂĽr H. Kelsen u. a. Juristen – selbstverständlich gewesen sein, was mit „Republik“, „Demokratie“ und „Volk“ gemeint war, nämlich nicht mehr eine Rechtsgesetzgebung kraft kaiserlicher Verordnungen, bzw. kaiserlich-königlicher Sanktionen, sondern Selbstgesetzgebung und Verwaltung durch das „Volk“. 

Aber heute ist das Wort „Volk“ absolut anfällig für eine Missachtung des einzelnen in seinen Rechten. Ich spiele jetzt auf Wahlplakate der letzten Nationalratswahl der FPÖ an: Dort wurde gebuhlt um die Gunst des Volkes: „Ich seid der Chef. Ich bin euer Werkzeug“, oder „Euer Wille geschehe“?
Gebuhlt wird immer von allen Autokraten.

2) Es ist der Denkakt, der die Begriffe formt und festlegt, aber nicht willkĂĽrlich, sondern nach festen Gesetzen der in ihnen liegenden Idee.  In jedem Begriff muss die Wert- und Sinnanschauung eines Inhalts aufleuchten können, d. h. es muss eine substantielle Einheit, eine Totalität eines Allgemeinbegriffes geben, wie das gemeint ist, was das ist, das „Recht“.

Das Wort „Volk“ ist aber denkbar ungeeignet für eine Idee. Im Namen des „Volkes“, einer Nation, eines Staates, einer Ideologie des „great again“, einer panslawischen Bewegung usw. regieren die Autokraten dieser Erde. Der Souverän „Volk“ ist der brauchbare Diener jeglicher Art von Unterdrückung und Unfreiheit.

Für die Gesetzgebung 1920 mag das Wort, d. h. der Begriff des „Volkes“, noch eindeutig und klar gewesen sein, hauptsächlich negativ klar als  Abgrenzungsbedingung gegenüber einer  monarchisch-königlichen oder diktatorischen Gesetzesgebung verstanden, man freute sich, in einem parlamentarischen Verfahren seine Freiheit gebrauchen zu können, die Zeiten waren schlecht, man hatte keine Zeit für ontologische Spitzfindigkeiten u. a. Historische Gründe mag es gegeben haben.

Aber heute, müssten hier nicht die Begriffe präziser gesetzt werden?

Praktisch läuft es so: Der Verfassungsgerichtshof in Wien prüft  eingehend alle Gesetze auf ihre oberste Verfassungsgemäßheit, d. h. er fungiert selbst als Rechts- und Schutzmacht des einzelnen, sodass gerade nicht vom „Volk“ oder vom Parlament oder einem beliebigen Lokal-Gericht in der Rechtsgesetzgebung und Exekution und Verwaltung das Recht ausgeht.

Um sowohl das Naturrecht des einzelnen zu schĂĽtzen,  wie die Gefahr des Missbrauchs der Macht seitens der Politik einzudämmen, wäre es demgegenĂĽber nicht an der Zeit, die goldenen Lettern umzubauen zu: „Österreich ist eine demokratische Republik und der zweite Satz, entweder a) „Ihre Macht geht vom Volk aus“ (sozusagen als Korrektur gegen selbsternannte Machthaber), oder, noch besser, b) „Ihr Recht geht vom einzelnen und seinem Nächsten aus„? (ebenfalls als Kriterium genannt, woher die Repräsentanten in einem Staate ihre Legitimation erhalten.)

Das Problem in den Begriffen des B-VG Art 1 liegt nicht bei den VerfassungsrichterInnen, die den ideellen Begriff „Volk“ stets auf das Recht des einzelnen beziehen, also dessen Recht schützen, doch die Politik in Form einer Ideologie oder Autokratie reizt und provoziert, Grundrechte und Menschenrechte im Namen des „Volkes“, der Staatsgrenzen, der Parteiinteressen, der Wirtschaft u. a. m. Auszuhebeln.

Der Begriff „Volk“ muss noch nicht das Problem sein, aber er verleitet zu einer liberalistischen und autokratischen Ausnutzung.

© Franz Strasser, Nov. 2024

Literatur: Giuseppe Duso. Die moderne politische Repräsentation: Entstehung und Krise des Begriffs Übersetzung aus dem Italienischen von Peter Paschke, 2006.  

1 Literatur vgl. Giuseppe Duso, der in mehreren Büchern und Artikel auf die Aporien in einem Repräsentation-System hinweist, wie sie im Staatsdenken gang und gäbe. Siehe z. B. sein Buch: Die moderne politische Repräsentation: Entstehung und Krise des Begriffs Übersetzung aus dem Italienischen von Peter Paschke, 2006.

„Wenn nach HOBBES der „Leviathan“ (Souverän) einmal ermächtig ist, ist der politische Wille des einzelnen aufgehoben und absorbiert. Der politische Wille der einzelnen Untertanen ist durch das repräsentative Prinzip identisch mit dem zum Souverän artikulierten Willen geworden. „Ein politisches Handeln der einzelnen Bürger erscheint schon vom Ansatz her ausgeschlossen. Vor allem verliert der Konsens – dieser so wichtige Faktor für eine als koinonia konzipierte Politik – seinen ursprünglichen Sinn. Er (sc. der Konsens, die Partizipation) ist nicht der Zweck aller Bemühungen auf den verschiedenen politischen Ebenen, liegt nicht im ständigen Zusammenfließen der verschiedenen Willen zum einvernehmlichem Handeln, sondern äußert sich in einem einzigen Akt. Dieser Akt gebiert eine Form, in welcher dem Befehl – natürlich erteilt vom dazu ermächtigten Repräsentanten – notwendig der Gehorsam der Bürger entspricht, aber nicht wegen der Inhalte des Befehls, sondern wegen seiner Form, d.h. wegen der Hervorbringung des Gesetzes durch den dazu Ermächtigten. Es ist wenig sinnvoll, in einer so definierten politischen Sphäre vom Konsens der Untertanen zu sprechen, die als Unterworfene weder konsens- noch dissensfähig sind, sondern gehorchen müssen.“ (ebd. S. 95)

2Siehe dazu zur Begründung einer Rechtslehre bei Kant: B. Grünewald, Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und Solipsismus- Vorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs Erschienen in: Metaphysik und Kritik, FS für Manfred Baum,hrsg. v. S. Doyé, M. Heinz, U. Rameil, Würzburg 2004, S. 183-201. Quelle: Internet, siehe dortige Homepage mit Downloadmöglichkeit des Artikels.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser