Die systematische Anwendung des Rechtsbegriffes – §§ 8 – 11 GNR – 7. Teil

Die systematische Anwendung des Rechtsbegriffes – §§ 8 – 11 GNR – 7. Teil nach H. G. v. Manz, ebd. S 109ff.

Systematische Anwendung des Rechtsbegriffs, oder die Rechtslehre“ (SW III, § 8, S 92) (Rechtslehre im engeren Sinn)

Nach der apriorischen Begriffsbestimmung des Rechts aus dem Wesen der Vernunft (Subjektivität/Reflexivität und Interpersonalität) und den transzendentalen Anwendungsbedingungen des Leibes und der Kommunikabilität und den Übergang zu einem reellen Rechtsbegriff in seinen transzendentalen Anwendungsbedingungen § 7 (Pflicht zur Gemeinschaftsbildung,  Reflexivität des Wollens, Verhältnis der Dependenz, gemeinschaftliches Wollen in der Zeit, Eigenständigkeit des Rechtes)  folgt jetzt §§ 8 – 11 die systematische Anwendung des Rechtsbegriffes in Bezug auf eine mögliche Realisierung –  in der  Einheit der transzendentalen Reflexion und der qualitativen Totalitätseinheit des Wissens vermittelt.

Dies führt zu praktischen Schemata, die real vollzogen werden. Es sind diese Schemata nicht bloße heuristische, auf gut Glück angewandte  Prinzipien oder regulative Ideen, sondern gleichfalls transzendental abgeleitete notwendige Prinzipien, konstitutiv erstellt, gewonnen aus dem Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft und der teleologischen Idee eines freien Miteinanders in Zeit und Geschichte. 

H. G. v. Manz fasst so zusammen: „ Nach allgemeinen Vorüberlegungen führt Fichte die Anwendung in drei Schritten aus; in einem ersten wird ein Urrecht, das der Person schlechthin zukommt, behandelt, dann ein Zwangsrecht und schließlich, in welcher Form sich beide in einer Synthese als Recht im Gemeinwesen darstellen. Damit wird die Grundlage für eine ideale Rechtsordnung gelegt.“ (H. G. v. Manz, Fairness und Vernunftrechte, 1992, S. 109. Hervorhebung von mir)

1) Die „Deduction der Eintheilung einer Rechtslehre“ (GNR, § 8, ebd. S 92) soll analog zu Kants „Schematismus der Verstandsbegriffe“ die transzendentale Einsicht zeigen, wie der Begriff des Rechts anschaulich in der Wirklichkeit angewandt und bestimmt werden kann.

Aus  einem a) bestimmten systematischen Ort des Wissens gesetzt (aus Aufforderung und Anerkennung in Interpersonalität, in Leiblichkeit und Kommunikation gebildet), soll b) eine grundlegende erste Konstitution eines Rechtsgesetzes geschaffen werden nach einer Regel des sozialen Ganzen 1 und c) diese soll zu einer fortbestehenden Dauer führen.

Es ist m. E. sehr bemerkenswert: Nicht aus der Faktizität einer Schutzbedürftigkeit oder aus einem libertären Egoismus, ja nicht einmal aus einem moralischen Appell heraus, oder aus sonstigen faktischen Systembedingungen (siehe Rechtsphilosohie bei N. Luhmann) wird die synthetische Form eines „Urrechtes“ und eines Rechtsgesetzes abgeleitet, sondern das Schweben der Einbildungskraft entwirft selber die Regel eines Schemas. Das „Naturrecht“, wie der Begriff in der Neuzeit Einzug in die Philosophie gehalten hat,  ist hier ein rein rationales, aus logisch nachvollziehbaren Gesetzen des Verstandes nachvollziehbares, Vernunftrechtgeworden.

I. Soll überhaupt die Vernunft in der Sinnenwelt realisirt werden, so muss es möglich seyn, dass mehrere vernünftige Wesen, als solche, d.i. als freie Wesen neben einander bestehen. Das postulirte Beisammenstehen der Freiheit mehrerer aber ist, — es versteht sich beständig und nach einer Regel, nicht etwa bloss hier und da zufälligerweisenur dadurch möglich, dass jedes freie Wesen es sich zum Gesetz mache, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit aller übrigen einzuschränken. (SW III, GNR § 8, S. 92. Hervorhebung von mir )

1. 1) Der Begriff der „Freiheit“  ist nicht  epistemisch bestimmt und als Voraussetzung eines sich selbst das Gesetz gebenden Willens erschlossen, sondern extensional auf qualitativen Sphären der Interpersonalität aufgeteilt – und aus dieser Wechsel-Wirksamkeit interpersonaler Freiheit wird zu quantitativen Selbstbeschränkungen verschiedener Rechte und Pflichten übergegangen. Die Rechte und Gesetze sind praktisch-logische Konsequenzen aus einem vorhergehenden Akt der Bildung qualitativer Sphären.
Ich möchte hier wagen, einen Vergleich mit KANT anzustellen: Nach Kant
 lässt sich Freiheit nur durch den Begriff eines freien Willens unter sittlichen Gesetzen einsehen und bestimmen. (Der Begriff einer transzendentalen Freiheit, wie in der dritten Antinomie der KrV postuliert, tangiert hier Kant in der Ausarbeitung einer Selbstgesetzgebung durch den Willen nicht.)

Er erarbeitet das in der GMS 1784: Der Wille, der sich selbst das Gesetz geben will – ein Ton von Aufklärung und politischer Autonomiebestrebung schwingt immer mit – wird als „frei“ bezeichnet, wenn er identisch ist mit sittlichen Gesetzen – in der späteren KpV spricht er vom „Faktum des Sittengesetzes“ (KpV) – ergo muss die Freiheit ebenso mit dem freien Willen gegeben sein.

Es wird dann alles sehr genial und akribisch ausgearbeitet: Der freie Wille bestimmt ergo das Gute oder Böse in formallogischer Reinheit oder innerer Widersprüchlichkeit. Das Gute ist die synthetische Erkenntnis a priori eines „kategorischen Imperativs.

Dies wird von Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ 1787/88 nochmals formalisiert und zu einer Architektur einer „reinen“ Vernunft in praktischer Hinsicht vollendet: Der reinen Wille besteht a) in einer formallogischen Erkenntnis von Gesetzgebung (1. Analytik der KpV) b) bestimmt material, nach formallogischen Gesetzen geprüft, die Maxime und Gesinnung (2. Analytik der KpV) und c) wird angewandt in der Pflichterfüllung der Achtung des Gesetzes (3. Analytik der KpV).

Der Begriff des „freien Willens“ bleibt m. E. bei Kant eine höchst vertrackte Konstruktion, insofern dessen Bestimmungsgrund nur ein formales Gesetz eines kategorischen Imperativs sein darf, aber die materialen Bestimmungsgründe dann doch spezifiziert und angewendet werden müssen, so stehen ständige Selbstprüfungen und Infragestellungen an.

Bei Fichte ist das vergleichsweise einfacher und eindeutiger: Das Sittengesetz und das ursprüngliche Wollen sind in ihrem Inhalt von vornherein gleich. Was ich will, ist die sittliche Verheißung selbst, Ich und das Sittengesetz wollen dasselbe.

Bei Kant streitet der freie Wille ständig mit den Neigungen und dem unteren Begehrungsvermögen und muss sich erst durch rigorose Pflicht durchsetzen, das aber ständig. Er ist zwar einem selbst gegebene Gesetz der Autonomie verpflichtet, „dem die bloße gesetzgebende Form der Maxime allein zum Gesetze dienen kann (Kant, KpV, AA V, 29), kann sich aber nie sicher sein, ob er nicht von anderen Bedürfnissen oder Neigungen getrieben ist.

Kant will sicherlich (wie Fichte) ebenfalls das Sittengesetz verwirklichen, will über Formalität hinaus essentiell Gutes verwirklichen (oder essentiell Böses verhindern), wie ja die Anwendung des materialen Bestimmungsgrundes im Begriff der Achtung in der 3. Analytik der KpV auf die Interpersonalität ausgeht, aber durch sein vertracktes Wollen kommt er nie zu einem transzendentalen Begriff des Guten oder eines gemeinsamen Solls mehrerer Freiheiten. Freiheit ist beschränkt auf eine erschlossene bürgerliche Gesetzesordnung formeller Gleichheit, auf Autonomie und Personalität, und Sittlichkeit ist beschränkt auf das durch den freien Willen selbst epistemisch bestimmte „Gute“ oder abzulehnende „Böse“.

Wenn das Gute nur wirklich sein kann im möglichen „guten“ Willen, so ist die Deduktion der Idee der Ableitung eines „kategorischen Imperativs“ als höchste Stufe der Sittlichkeit und Moralität, so ist das eine ziemlich tiefe und libertär egoistische Stufe, denn es geht um abgegrenzte Bereiche der Rechte und Pflichten – was natürlich eine gewisse Sittlichkeit bereits ist, und ich nicht gänzlich abwerten will! – , aber ein die individuelle Freiheit im Willen übersteigende materiale, interpersonale Einheit von Freiheit im Guten (oder in verstricktes Böses) kann nicht mehr deduziert werden. Es wird das Individuelle kaschiert in einem allgemein-tauglichen Gesetz des „kategorischen Imperativs“, aber dessen materiale Erfüllung reicht nur bis zu gewissen Geboten oder Verboten und fordert nicht auf, die Freiheit und das Gute im anderen oder in einem selbst zu suchen und zu fördern. (Siehe dann unten zu „Erlaubnisgesetzen“.)

Es herrscht bei Kant im Denken eines „guten Willens“ eine gewisse moralische Wertfreiheit. Hat nämlich das Gute im „guten Willen“, der sich synthetisch a priori erkennbar macht im „kategorischen Imperativ“ einer gleichen Ordnung für alle durch sittliche Gesetze, einen Wert, der wohl nur durch ein wirklich Gutes gemeint sein kann – nicht nur als epistemisch benanntes „Gutes“ aus der Idee der Möglichkeit eines sich selbst das Gesetz gebenden Willens deduziertes „Gutes“? Das „Gute“ einer selbsterzeugten, geschaffenen Rechtsordnung, aus welchem Grund und mit welchem Recht wird sie „gut“ und sinnvoll eingesehen und gefordert? Bestenfalls erfüllt ein sittlich „Gerechter“, wenn dieses Wort überhaupt verstanden werden kann?, nach der „sittlichen“ Ordnung eines kategorischen Imperativs Kants seine schuldige Pflicht, wenn er „gut“ nach dem Sittengesetz sich verhält, aber ist das wirklich und wahrhaft „gut“ zu nennen? Die Tradition dieses Begriffes „Gut“ oder „Böse“ leitet sich doch von ganz anderen Prinzipien ab als einem bloß formallogischen Gesetz innerer Nicht-Widersprüchlichkeit und möglicher Verallgemeinerungsfähigkeit?

Anders formuliert: Die Freiheit ist infolge des politisch angehauchten „freien“ Willens und gemäß den ausgebauten Regeln der „Kritik der praktischen Vernunft“ entweder a) eine sehr durch Gesetz verpflichtete und verbindliche Form geworden – oder sie ist überhaupt b) eine Scheinidee, denn wenn der freie Wille immer ein gegen die Neigung des unteren Begehrungsvermögens schaffender und kämpfender Wille ist, so wäre es ehrlicher, gleich einzugestehen, dass es einen solchen freien Willen nicht geben kann, oder zumindest er meistens dem unteren Begehrungsvermögen unterliegt.

Fichte ist hier in seinem Postulat des Denkens von Autonomie und möglicher Rechtsgebung und Moralität viel bescheidener. Er kann es sein, weil die ganze Last der Begründung und Rechtfertigung in einem bereits alle Freiheit (oder interpersonal gesehen Freiheiten) verpflichtenden transzendentalen Soll liegt.

Das entbindet nicht von einer Selbstgesetzgebung des freien Willens, denn nur zu Bedingungen der Freiheit soll das transzendentale Soll erreicht werden, entbindet aber von einem Geltungsanspruch, nur das im freien Willen erreichte „Gute“ schon als das „Gute“ eines „guten“ Willens zu apostrophieren vermag. Das im transzendentalen Soll liegende Gute (oder zu vermeidende Böse) verbindet und verpflichtet – wie der absolute Teilungsgrund des § 3 der GWL – zu einer praktisch und zeitlich zu erreichenden Erfüllung. Dieser Erfüllung ist genetisch schon beschlossen im absoluten Geltungsanspruch wechsel-wirksamer Freiheit und in einem „durch sich selbst bestimmten Willen“ (Wlnm, § 12), kann aber und muss wegen der diskursiven Vernunft-Natur dieses Soll in zeitlichen Schritten eingeholt werden.
Es ist eine Deduktion aus einer Idee, die
sowohl absoluten Geltungsanspruch, mithin auch den Wert eines absolut Guten (des „Guten“, „der Gute“ Mt 19, 17), und willentliche Selbstgesetzgebung vereint. Diese Idee eines synthetisch a priori erkennbaren Guten in einem transzendentalen Soll führt nicht zu einer Undenkbarkeit und Unbrauchbarkeit des von Kant deduzierten Begriffes einer Möglichkeit, wie kann uns ein „kategorischer Imperativ“ nötigen und bestimmen, weist ihm aber jetzt nur mehr die Funktion einer Handlungsfolge zu: Wie können sittliche Urteile, die natürlich durch einen freien Willen gefällt sein müssen, vereinbar sein für möglichst viele im Sinne von für alle von allen zu jeder Zeit. Die Deduktion der Möglichkeit des Rechts und der Sittlichkeit ist höher hinaufgerückt in diese Sphäre wechsel-wirksamer Freiheit und geltungsspezifischer Differenz zum absoluten Soll und der „kategorische Imperativ“ ist eine taugliche Regel geworden. 2

Der freie Wille wird von Anfang an viel weiter (als durch die Gesetze der praktischen Vernunft beschränkt), aber auch viel eindeutiger bei Fichte formuliert: Das Wollen eines Ichs ist im Grunde (mit allen seinen Vermögen, unteres und oberes Begehrungsvermögen) eins mit dem Sittengesetz. Die Geltungsdifferenz zwischen Gelingen und Nicht-Gelingen eines „guten“ Willens liegt bereits im Gefühl – und bekanntlich ist letzteres wieder definiert durch den Trieb, welcher aber wiederum das Objekt nicht selbst herbeiführen kann. Die Geltungsdifferenz des Erkennens liegt in einem transzendentalen Soll. Dies führt nicht zu einer abstrakten Abgehobenheit des Sittengesetzes, sondern im Gegenteil, wird erfahrbar als Geltungsgrund von Werten, die im Gefühl bereits vermittelt sind, sei es in der Form basaler, sinnlicher Werte oder dann höherer, intelligibler Werte, aber auf jeden Fall erfahrbar und perzipierbar – nicht erst durch ein formales Universalisierungsgesetz eineskategorischen Imperativs“ nachträglich als epistemisch „gut“ oder gesinnungsmäßig nicht gut apostrophierbar.

Sicherlich, wenn ich das ungeschützt sagen will, will Kant keine selbstherrliche, sozusagen existentialistische Moral à la Sartre installieren, er verweist seine moralische Gesetzgebung im freien Willen auf das übergeordnete Sittengesetz, aber der Bestimmungsgrund des Guten wie Bösen bleibt im Dunklen. Er will schließlich 1793/94 in der RGV diesen Bestimmungsgrund auf einen Akt der Freiheit zurückführen, um einer heteronomen und unbekannten Bestimmung zu entgehen, aber dadurch wird erst recht der Akt der Freiheit eingeschränkt auf eine rechtliche Ordnung, die bei weitem nicht den Sinn von „Gut“ und „Böse“ mehr erfassen kann. (Poetisch kann Kant freilich das Gute wie Böse beschreiben!) Es entfällt ein dem freien Willen übergeordnetes, werthaft Gutes (oder abzulehnendes Böse), geschweige dass ein göttlich Gutes noch zur Bestimmung des Willens beigezogen werden dürfte.

(Soviel zu einem Vergleich mit Kant, was natürlich viel weiter anhand der GMS und KpV auszuführen wäre. Wie Fichte dieses Thema Freihiet und Sittenlehre selbst ausführt im Unterschied zu einer GMS oder KpV nach Prinzipien der WL – siehe Blogs zur SL 1798). 3

1. 2) Jetzt wieder zurück zum Rechtsbereich: K. HAMMACHER hinterfrägt m. E. zurecht eine Rechtsbegründung, die nur auf ein formallogischen Prinzips eines „kategorischen Imperativs“ zurückgeht, d. h. sich durch Verallgemeinerungs- und Tauglichkeitsprüfung empfiehlt. Aber da etwas nicht verallgemeinerungsfähig zu sein braucht, dadurch, dass es verboten ist, so ist es mit der Verallgemeinerungsfähigkeit auch noch nicht geboten. Dieser Bereich von Gesetzen wäre weder präskriptiv, noch nur deskriptiv, (…., sondern) proskriptiv“ (…) 4

K. Hammacher will auf eine dritte Form von Rechts-Gesetzen hinweisen, die Kant in nuce der „hypothetischen“ Urteile zwar ebenfalls schon gesehen hat, aber für sich nicht erklären konnte, wie in diesen hypothetischen Urteilen bereits ein Anteil einer transzendentallogischen Wissbarkeit wechselseitiger Anerkennung liegen kann. Es sind die „Erlaubnisgesetze„, die zwischen Verboten und Geboten liegen, und gerade aus der Idee wechselseitig-wirksamer Freiheit deduziert werden können.
In den „Erlaubnisgesetzen“ liegt ein frei lassender, erlaubter Imperativ, der durch das wechselseitige Verpflichten von Freiheit die Möglichkeit eines material bedingten
Wertes – der eigentlich erst „das Gute“ genannt zu werden verdient –  aufscheinen lässt – bedingt zu Bedingungen der Freiheit  und bedingt durch das absolute, transzendentale Soll. 
Dieser teil-absolute Geltungsgrund (nach § 3 der GWL) eines sittliche Guten und Werthaften liegt nicht außerhalb des rationalen Verständnisvollzuges, baut aber doch auf ein dem Verstandesdenken entzogenen materialen Wert und Sinn auf. Wenn die Freiheit nach dieser Idee der Möglichkeit eines differenziert vorgegebenen Guten für alle von allen zu jeder Zeit handeln will, bildet sie die vernünftige Gesetzlichkeit einer gemeinsamen Rechtlichkeit, Moralität und Religion, ansonsten bleibt diese Gesetzlichkeit in der unbegründeten und nicht gerechtfertigten Freiheit verborgen und verschlossen.

Dies alles liegt im Begriff der „Anerkennung“ enthalten. Was heißt „Anerkennen“? Fichte gibt eine sehr kurze und einfach Antwort: Anerkennen besteht gerade im Handeln selbst. „denn nur Handeln ist ein solches gemeingültiges Anerkennen“ (GNR, § 4, ebd. S 47).

Die neue gesehene Kategorie der Erlaubnisgesetze ist von vornherein interpersonal orientiert, proskriptiv, kreativ, auf die Praxis des Handelns gerichtet (praxeologisch).5

Anders gesagt: Der Andere ist durch ein Erlaubnisgesetz nicht nur  negative Grenze der eigenen Freiheit, vor dem es sich vielleicht sogar zu schützen bzw. psychologisch zu fürchten gilt, oder Prüfstein der Anwendung des „kategorischen Imperativs“, der Andere ist zugleich positive (wie auch negative) Sphäre freier Wechsel-Wirksamkeit, eine Chance der Verträglichkeit, des Austausches, der Vereinigung in einem Vereinigungsvertrag zugunsten aller und zugunsten jedes einzelnen, für alle von allen zu jeder Zeit.

Fichte kann deshalb berechtigt von einer transzendental-konstitutiven Deduktion des Rechtsbegriffes sprechen, weil der Deduktionsgrund in einem alle interpersonalen Freiheit verbindenden transzendentalen Soll (mit teilabsoluten Geltungsanspruch) eingesehen werden kann, d. h. in einem genetischen Akt der Bildung wechselseitiger Sphären von Freiheit – und der weiter zu schaffenden, quantitativen  Rechte und Gesetze in einer praktisch-logischen Konsequenz.

Der grundlegende, transzendentale Anerkennungsakt konstitutiert dabei ein Dreifaches: Das  Urrecht, das Zwangsrecht und das Gemeinwesen.

§8. Deduction der Eintheilung einer Rechtslehre“ (SW III, S 92)

a. das freie Wesen kann, und hat das physische Vermögen, die Freiheit der vernünftigen Wesen zu stören, oder überhaupt zu vernichten; aber

b. es ist in Absicht der Wahl unter alle dem, was es kann, nur von seinem freien Willen abhängig; wenn es daher die Freiheit der übrigen nicht stört, so müsste das geschehen zufolge eines freien Entschlusses, und

c. wenn in einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen eine solche Störung nie geschieht, noch geschehen kann, so wäre das nur zu erklären dadurch, dass alle freie Wesen eine solche Verfahrungsweise sich selbst freiwillig zum Gesetze gemacht hätten. (GNR, § 8, ebd. S 92)

Das Sich-Bilden eines freien Vernunfwesens, das sozusagen oberstes Paradigma ist, ist a) nur innerhalb der Interpersonalität und Kommunikabilität möglich, b) ist nicht ein psychologisches Bedürfnis oder ein erzwungenes Sich-Bilden, sondern von vornherein (durch eine göttliche Aufforderung) c) in eine freie Wählbarkeit und Entscheidbarkeit gestellt, und d) zu Bedingungen der Freiheit ein gesetzhaftes Bilden, das zu einem Rechtsgesetz bzw. zur Moralität und Religion und zu einer Geschichts- und Sinnidee führt.

Im ganzen Systemkomplex des originären, ursprünglichen Handelns der Subjektivität/Reflexivität ist das Handeln immer schon ein legales (rechtliches) oder illegales Handeln. (

In der SITTENLEHRE kommt ein objektiv-bildbares, inhaltliches  Gesetz der Selbstbeschränkung hinzu – bestimmbar als Handlungsspielraum des Gewissens und sittlicher Vervollkommnung, die Idee des Guten; in der Religionslehre die zusätzliche Erlösungs-Idee eines personalen Gottes.

Die Rechtsordnung kann so gesehen werden:

a) „allgemeingültig und kategorisch“ (ebd. S 93)

b) „quantitativ und materiellnach ihrem Umfang

c) „qualitativ und formell“ (ebd. S 93), weil der vorgestellte Geltungsgrund gemeinsamen Wollens und gemeinsamer Freiheit  zugleich die „Möglichkeit der Freiheit Anderer“ (§ 8, ebd. S 93) enthält.

Ich finde es äußerst bemerkenswert, dass der Begriff der Freiheit am Ursprung hier nicht nur negativ oder bloß formal, sondern als qualitativer Geltungsgrund und Form gemeinsamer und anderer Freiheit ausgewiesen ist. FICHTE stellt zu dem „qualitativ und formell“ ausdrücklich fest:

Hier hat dasselbe Wort (sc. das der Freiheit) einen anderen Sinn, und die Bedeutung desselben ist lediglich qualitativ und formell. Jeder soll überhaupt nur auch frei, eine Person seyn können: aber wie weit der Umfang seiner durch Freiheit möglichen Handlungen sich erstrecken solle, darüber wird durch das Gesetz zunächst nichts bestimmt. Zu einer Handlung, die die Freiheit und Persönlichkeit eines Anderen unmöglich macht, hat keiner das Recht; zu allen übrigen freien Handlungen hat es ein Jeder.“ (ebd. S 93.94)

Indem differenzspezifisch die Möglichkeit der „Freiheit Anderer“ aufgemacht wird, wird erkenntniskritisch ein qualitativer, inhaltlicher Geltungsgrund vorausgesetzt und behauptet, der durch die folgenden quantitativen Freiheits- und Rechtsansprüche und Rechtsgesetzgebung faktisch weiterbestimmt werden kann. Oder m. a. W. gesagt, transzendental  aus der Bedingung der Wissbarkeit gefolgert und gerechtfertigt: Die wechselseitige freisetzende Setzung im Rechtsverhältnis ist  bedingt durch eine gemeinsame frei-setzende, freie Setzung eines absoluten Solls.  Das folgende „Urrecht“ ist somit nicht wie z. B. die „Grundnorm“ bei H. KELSEN  unbegründet und dezisionistisch hingesetzt, sondern liegt ausdrücklich begründet und gerechtfertigt in der differentiellen, transzendentalen Einheit des interpersonalen Wechsels.
Anders gesagt: Alle Rechtsbegriffe tragen  diesen differenzspezifischer Geltungsgrund von Freiheit (der eigenen wie der anderen)
in sich und leiten sich durch diese disjunktive Einheit (von Ich und Du in einem Wir) als  qualitative und quantitative Freiheitsgesetze (=Rechtsgesetze) ab.

Diesen Geltungsgrund der Freiheit soll im generierenden Verfahren der Gesetzgebung und Rechtssprechung und Rechtsausführung (Legislative, Judikative, Exekutive/Administration) schematisch die Rechtsordnung begründen und schöpferisch begleiten und alle Rechtsbegriffe bewähren.  

Dieses Recht, oder diese Rechte liegen im blossen Begriffe der Person, als einer solchen, und heissen insofern Urrechte. Die Lehre von denselben entsteht durch die blosse Analyse des Begriffes der Persönlichkeit, inwiefern das in ihm enthaltene durch das freie Handeln Anderer verletzt werden könnte, aber zufolge des Rechtsgesetzes nicht soll. Diese Lehre wird das erste Capitel unserer Rechtslehre ausmachen. (ebd. S 94)

M. a. W., es muss konstitutionsgenetisch sowohl das eigene wie das andere Handeln unter den Begriff der Freiheit subsumiert werden können. Deshalb dieser so wichtige Begriff der Zurechenbarkeit und Freiheit, den ja Kant in den MdS 1797 stark herausarbeitet. Die Zurechenbarkeit ist z. B. in der Strafgesetzgebung oft letztes Kriterium, ob die Verantwortlichkeit vorausgesetzt werden kann oder nicht.  Transzendentallogisch ist jeder/jede zuerst selbst sein/ihr „eigener Richter“ (ebd. S 95).  Wenn in weiterer Folge von einem „Zwangsrecht“ die Rede sein wird, von einem Schutzrecht in einem Gemeinwesen mittels „Staatsbürgervertrag“, so stehen sie alle im Dienste und der Funktion des „Urrechts“ und stehen in deduktiver Abhängigkeit von sich wollender und sich respektierender Freiheit. 

In diesem Zusammenhang heißt es zum „Zwangsrecht“ (aber ähnlich gilt das für alle weitere Rechtsordnung):

Ferner ist Acht zu haben auf den Charakter des Zwangsrechtes, dass es lediglich aus dem Stillschweigen des Gesetzes, aus seiner Nichtanwendbarkeit überhaupt auf diesen Fall, keinesweges aber etwa aus einem Gebote desselben herfliesst. Darum giebt es nur ein Recht zu zwingen, dessen man sich bedienen darf, oder auch nicht, keinesweges aber eine Pflicht zum Zwange. (ebd. S 95.96)

Wenn ich wieder mit KANT vergleichen darf  – jetzt etwas polemisch: Eine bloße Begründung des Rechts durch ein faktisches Sittengesetz, das in der Formel eines „Kategorischen Imperativ“  angewendet werden kann – und bis zu einem gewissen Grad Freiheit sogar in der Erscheinung einsichtig macht 6 – führt mangels Schematisierung auf der interpersonalen Ebene nicht gerade dynamisch zum anerkennenden Wohl des Anderen oder zum Vertrauen zum Anderen oder zu einer anzustrebenden Idee der Gerechtigkeit.7

M. a. W., ein bloß durch ein allgemeines, formales  Gesetz garantiertes Freiheitsrecht ist noch kein transzendentallogisch schöpferisches Prinzip, das jedem/jeder sein/ihr Urrecht zuteil wird.  (So finden sich mangels transzendentallogischer Begründung eines Urrechtes bei KANT totalitäre Züge der Gesetzgebung – bei sonstiger Behauptung von Freiheitsrechten.)8

FICHTE hat sich in der GNR von einer ziemlich anarchistischen Einstellung in den Jahren der französischen Revolution (siehe z. B. Schrift von 1793) zu einem vorsichtigen, bedachtsamen, wohlwollenden Staatsdenken bekehrt. Die Funktion des Staates ist notwendig, aber er muss in seiner Politik eindeutig nur als Rechtsstaat gekennzeichnet sein, ist nur Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.
So finden sich z. B. viele weiterführende Gedanken  zu Bildungsaufgaben und Sozialaufgaben eines Staates usw.  Die transzendentalen Prinzipien einer realisierenden Politik, Rechtsgesetzgebung, Administration, Redefreiheit usw.  siehe in
§ 21. Leider, so  muss gesagt werden, was hier 1796 als bürgerliche Rechte schon formuliert worden ist, wurde nach den Befreiungskriegen 1813 in der sog. „Restauration“ wieder rückgängig gemacht.  Der Staat muss ein Rechtsstaat sein, eine Kontrolle muss selbst dort  möglich sein – hier in GNR 1796 mittels Ephorat formuliert. (In der „Rechtslehre“ von 1812 hält FICHTE  davon nichts mehr.)
Auf jeden Fall muss ein starkes Abwehrrecht gegen illegitime Ansprüche des Staates in der transzendentalen Systematik der Rechtsordnung konstitutiv erhalten bleiben.  Wo findet sich eine Kontrolle des Staates oder des Monarchen oder der Repräsentanten bei KANT? 9

 2) Es wird dann das Urrecht und Zwangsrecht in ihren allgemeinen Bestimmungen beschrieben – (ebd. S 96 – bis Ende S 110):

Dieses Recht, oder diese Rechte liegen im blossen Begriffe der Person, als einer solchen, und heissen insofern Urrechte. Die Lehre von denselben entsteht durch die blosse Analyse des Begriffes der Persönlichkeit, inwiefern das in ihm enthaltene durch das freie Handeln Anderer verletzt werden könnte, aber zufolge des Rechtsgesetzes nicht soll. Diese Lehre wird das erste Capitel (§§ 9- 12) unserer Rechtslehre ausmachen. (ebd. S 94)

Nachdem daher im ersten Capitel diese aufgestellt worden, so muss es klar seyn, wenn sie verletzt sind. Dennoch ist es um der systematischen Uebersicht willen nicht überflüssig, die Fälle, in denen das Zwangsrecht eintritt, einzeln aufzuzählen; und schärfer zu bestimmen: und dies wird im zweiten Capitel der Rechtslehre geschehen. (§§ 13 – 15) (ebd. S 96)

Ein Zwangsrecht kann nicht willkürlich eingeführt oder bestimmt werden, sondern tritt erst auf, wenn ein „Urrecht verletzt“ worden ist (ebd. S 96.) Das Zwangsrecht ist insofern „unendlich“ (ebd. S 97), als die Prekarität eines Unrechts immer vorhanden ist (im mangelnden rechtlichen und sittlichen Wollen), „(bis)… der andere in seinem Herzen das Gesetz übernimmt“. (ebd. S 97). Wenn das Recht übernommen ist, hört auch der Zwang auf. Das Zwangsrecht ist somit in seiner Legitimität bedingt.

3) Ich will hier eher stichwortartig skizzieren: H. G. v. Manz beschreibt das „Urrecht“ als „gedankliche Fiktion“, als „heuristische Funktion“ (Fairness und Vernunfrecht, ebd. S 110). Das „Urrecht“ ist die Rechtsquelle aller weiteren Rechte.

Nach synthetischer Methode wird der apriorische Begriff des „Urrechts“ synthetisch mit der Anwendungsbedingung „Welt“ vereint.

Der Übergang und die näheren Bestimmungen zum „Urrecht“ werden von FICHTE dann in drei §§ 9 – 11 (ebd. S 111-119) weiter dargelegt:

H. G. v. Manz geht zuerst auf die Leiblichkeit ein als erster Gegenstand des Urrechts.

Das Urrecht ist daher das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu seyn (schlechthin nie Bewirktes). (ebd. § 10, S 113)

§ 11. „Analyse des Urrechts“

Im Begriffe einer Wirkung, und zwar einer absoluten Wirkung, liegt folgendes beides: 1) dass die Qualität und Quantität des Thuns durch die Ursache selbst vollkommen bestimmt sey; 2) dass aus dem Gesetztseyn des ersteren die Qualität und Quantität des Leidens im Objecte der Wirkung unmittelbar folge; so dass man von jedem auf jedes andere übergehen, durch Eins unmittelbar das Andere bestimmen könne, nothwendig beide kenne, sobald man eins kennt.

Inwiefern die Person der absolute und letzte Grund des Begriffes ihrer Wirksamkeit, ihres Zweckbegriffes ist, liegt die darin sich äussernde Freiheit ausser den Grenzen der gegenwärtigen Untersuchung, denn sie tritt nie ein in die Sinnenwelt, und kann in ihr nicht gehemmt werden. Der Wille der Person tritt auf das Gebiet der Sinnenwelt lediglich, inwiefern er in der Bestimmung des Leibes ausgedrückt ist. Auf diesem Gebiete ist daher der Leib eines freien Wesens anzusehen, als selbst der letzte Grund seiner Bestimmung, und das freie Wesen, als Erscheinung, ist identisch mit seinem Leibe. (Dieser ist Repräsentant des Ich in der Sinnenwelt: und, wo nur auf die Sinnenwelt gesehen wird, selbst das Ich.) — So urtheilen wir im gemeinen Leben immerfort. Ich war nicht da. Er hat mich gesehen. Er ist geboren, gestorben, begraben u.s.f.

Daher I. Der Leib, als Person betrachtet, muss absolute und letzte Ursache seiner Bestimmung zur Wirksamkeit seyn. (…)“ (ebd. , § 11, S 113.114)

4) Aus der apriorischen Forderung der freien Wirksamkeit folgt, wiederum sehr interessant, eine naturphilosophische Feststellung zur sinnlichen Natur: Diese muss konstant und unveränderlich auftreten – sonst könnte ja nicht auf sie berechnet und gewirkt werden. (vgl. ebd. § 11, S 115. 116). Diese Konstanz der sinnlichen Außenwelt für das freie Vernunftwesen ist somit rechtsphilosophischen Ursprungs – und nur sinnvoll, wenn das Subjekt Zwecke setzen kann bzw. dass es eine Fortdauer seines Wollens wollen kann.
Wie im Blog 6. Teil (zu § 7) schon kurz hingewiesen: Der Ursprung der Anschauungsformen Zeit und Raum und die Vorstellung einer menschheitlichen Entwicklung und Geschichte ist zuerst  interpersonal und rechtlich als Freiheitverhältnis zu begreifen. Siehe dann später die immer deutlicher hervortretende Geschichtsphilosophie, z. B. GdgZ 1806, worin der „Weltplan“ als Hervortreten einer Freiheitsgeschichte herausgestellt wird.
Doch schon bereits für naturphilosophische Grundlagen ist dieses rechtsphilosophische Reflektieren einer Urteilskraft maßgeblich und ursprünglich:  Freiheit soll wirklich werden können – deshalb sind Geschichtsphilosophie und Naturphilosophie möglich.  

IV. Die Person will, dass ihre Thätigkeit in der Sinnenwelt Ursache werde, heisst: sie will, dass eine ihrem Begriffe vom Zwecke ihrer Thätigkeit entsprechende Wahrnehmung gegeben werde, und zwar, wie sich versteht, und oben deutlicher in das Licht gesetzt worden ist, in einem zukünftigen, dem Momente des Willens überhaupt (nicht gerade unmittelbar) folgenden Momente.

Es ist schon erinnert, dass, wenn dies überhaupt möglich seyn soll, die Sachen in der Zukunft, d.i. nach der entweder thätigen Einwirkung der Person, oder nach der zweckmässigen Unterlassung einer Thätigkeit, ungestört und ihrem natürlichen Gange überlassen bleiben müssen,(…)

Demnach durch den Willen, und lediglich durch ihn, wird in dem gegenwärtigen Momente die Zukunft umfasst; durch ihn ist der Begriff einer Zukunft überhaupt, als einer solchen, erst möglich; durch ihn wird sie nicht nur umfasst, sondern auch bestimmt; es soll eine solche Zukunft seyn, und damit sie eine solche seyn könne, soll ich ein solcher seyn. Soll aber ich ein solcher seyn, so muss ich überhaupt seyn sollen.

(Es wird hier aus dem Wollen einer bestimmten Art der Existenz in der Zukunft, das Wollen einer Zukunft überhaupt, der Wunsch unserer eigenen Fortdauer, gefolgert; es wird behauptet, wir wollen — ursprünglich nach den Gesetzen der Vernunft, die hier denn auch mechanisch über uns herrschen, — fortdauern, nicht um der Fortdauer an sich, sondern um eines bestimmten Zustandes in der Fortdauer willen; wir betrachten die Fortdauer gar nicht als absoluten Zweck, sondern als Mittel zu irgend einem Zwecke.“ (ebd. § 11, S 117.118)

Zusammenfassend definiert FICHTE das „Urrecht“ der Person so:

V. Alles jetzt Deducirte zusammengefasst, fordert die Person durch ihr Urrecht eine fortdauernde Wechselwirkung zwischen ihrem Leibe und der Sinnenwelt, bestimmt und bestimmbar, lediglich durch ihren frei entworfenen Begriff von derselben. Der aufgestellte Begriff einer absoluten Causalität in der Sinnenwelt, und da dieser Begriff dem des Urrechts gleich war, der Begriff des Urrechts selbst, ist vollkommen erschöpft, und es kann in ihn nichts weiter gehören. (ebd. § 11, S 118)

G.v. Manz fasst folgerichtig zusammen: Es kann gesagt werden: Das „Urrecht“ wird zur Grundlage für eine Konzeption von Grundrechten und Menschenrechten.

Das Urrecht ist sonach ein absolutes und geschlossenes Ganzes; jede theilweise Verletzung desselben betrifft das Ganze, und fliesst ein auf das Ganze. Wird nun ja eine Eintheilung in diesem Begriffe beliebt, so könnte es keine andere seyn, als die, welche im Begriffe der Causalität selbst liegt, und welche wir schon oben aufgestellt haben. Es läge sonach im Urrechte:

1) Das Recht auf die Fortdauer der absoluten Freiheit und Unantastbarkeit des Leibes (d.i., dass auf ihn unmittelbar gar nicht eingewirkt würde).

2) Das Recht auf die Fortdauer unseres freien Einflusses in die gesammte Sinnenwelt.“ (ebd. § 11, S 118.119)

5) Das „Urrecht“ führt weiter zur Konzeption eines Rechts auf „Eigentum“, das hier als Handlungsbegriff, nicht als fetischistischer Gegenstandsbegriff, wie wir das heute oft verstehen, begriffen wird. Wiederum apriorisch abgeleitet: Aus dem Begriff der freien Wirksamkeit und der Möglichkeit muss ein „Eigentum“ als freie Handlungsmöglichkeit folgen.

Mit der SL von 1798 erklärt:

Es (sc. das Eigentum) ist der Inbegriff jenes Teils der Sinnenwelt innerhalb des Rechtsgesetzes, der der individuellen Zwecksetzung unterliegt. Der bestimmte meinen Zwecken unterworfene Teil der Welt, heißt, wenn er durch die Gesellschaft anerkannt und garantiert ist, (diese Anerkennung und Garantie ist juridisch und moralisch notwendig) mein Eigentum (SW, Bd. IV, SL 292; siehe in der SL z. B. § 18, ab S 219 den von FICHTE ausdrücklich hergestellten Zusammenhang der Interpersonalitätslehre mit der GNR u. a. m.)

6) Mit dem Recht auf Eigentum als Sicherung einer Handlungssphäre, als Handlungsbegriff, hängt unmittelbar das Recht auf Leben zusammen:

Leben zu können ist das absolute unveräußerliche Eigentum aller Menschen. Es ist ihm eine gewisse Sphäre der Objekte zugestanden worden ausschließend für einen gewissen Gebrauch, haben wir gesehen. Aber der letzte Zweck dieses Gebrauchs ist der, leben zu können“(GNR, ebd. § 18, S 212)

Von dieser Basis aus können weitere Grundrechte abgeleitet werden, die mittelbar das Recht auf Leben garantieren, wie das Recht auf Arbeit, Wohnung etc.

Das Urrecht, so jetzt die weiteren Schlüsse von H. G. v. Manz, führt weiter zu Anwendungsbedingungen der Kommunikation – zu einem Recht auf Sinnvermittlung, Sprache, Kultur, Recht auf Meinungsäußerung oder Versammlungsfreiheit. (p. s. Das müsste und könnte natürlich viel ausführlicher dargestellt werden; es sind nur Winke zum Weiterdenken.) 

© Franz Strasser, 21. 5. 2021

1Eine „Regel“ definiert sich m. E. aus dem Schweben der Einbildungskraft, wie sie in der GWL 1794/95 beschrieben worden ist. Hier als Regel in der Interpersonalität und des Sozialen geht es um eine Regel der die Gegensätze vereinigenden Rechtsansprüche, die in ein ausgewogenes Maß gebracht werden sollen, wobei dieses Schweben der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft selbst nochmals nicht völlig autark für sich abläuft, sondern durch praktische und transzendentale Vorgaben ermöglicht ist.

2Vgl. die Blogs zur SL 1798 z. B. 8. Teil, § 8. Das Sittengesetz hat die ganze Vernunft zum Objekt. Das Sittengesetz wird durch die formale Bestimmung einer Selbsttätigkeit eines Triebes und Gefühls begreifbar, als materiales Bedürfnis, basal-sinnlich bis geistig-intelligibel, innerhalb der Wahlfreiheit der Reflexion. „Formaliter ist beides dadurch zu unterscheiden: das Sittengesetz dringt sich schlechthin nicht auf, wird gar nicht gefühlt, und ist gar nicht unabhängig von der freien Reflexion vorhanden, sondern entsteht uns erst durch eine Reflexion auf die Freiheit, und durch die Beziehung jener Form alles Triebes überhaupt, auf die letztere; das Gefühl des materiellen Triebes hingegen dringt sich auf. Endlich der Relation nach bezieht der jetzt erwähnte Trieb sich gar nicht auf die Freiheit, wohl aber bezieht auf sie (sc. auf die Freiheit) sich das Sittengesetz, denn es ist Gesetz für sie.“ (SL 1798, zitiert nach  der  Ausgabe Phil. Bibliothek Meiner, Hamburg, 1995. S 106 u. a.)

3 Man kann auch nicht direkt sagen, dass Kant eine Wechsel-Wirksamkeit von Freiheit und Interpersonalität fremd gewesen sei. Siehe dazu verschiedene Artikel von B. Grünewald, der von einer bei Kant zu findenden, inkludierten Selbstverpflichtung gegenüber dem Wollen anderer in die Interpersonalität spricht.
B. Grünewald, Praktische Vernunft, Modalität und transzendentale Einheit. 1988. Quelle Internet.

4K. Hammacher, Über Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit. In: Transzendentale Theorie und Praxis. Zugänge zu Fichte. Fichte-Studien. Supplementa, 1996, S 119.

5Vgl. K. HAMMACHER, Fichtes und Husserls transzendentale Begründung der Intersubjektivität, in: Transzendentale Theorie und Praxis, 1996.
Siehe auch viele Ausführungen zum Interpersonalität – als eigentlicher Ort und Begriff des Handelns, im Unterschied zum Herstellen, bei Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Mai 2012, § 24, S. 246ff: – siehe Blog und Link zur Rechtsphilosophie 5. Teil, Anm. 8.

6„Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück. Ich frage hier nun nicht: ob sie auch in der That verschieden seien, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz blos das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei; sondern wovon unsere Erkenntniß des unbedingt Praktischen anhebe, ob von der Freiheit, oder dem praktischen Gesetze. Von der Freiheit kann es nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung giebt uns nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanism der Natur, das gerade Widerspiel der Freiheit, zu erkennen. Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet und, indem die Vernunft | jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt. Wie ist aber auch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzes möglich? Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben. Der Begriff eines reinen Willens entspringt aus den ersteren, wie das Bewußtsein eines reinen Verstandes aus dem letzteren. Daß dieses die wahre Unterordnung unserer Begriffe sei, und Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Freiheit entdecke, mithin praktische Vernunft zuerst der speculativen das unauflöslichste Problem mit diesem Begriffe aufstelle, um sie durch denselben in die größte Verlegenheit zu setzen, erhellt schon daraus: daß, da aus dem Begriffe der Freiheit in den Erscheinungen nichts erklärt werden kann, sondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachen muß, überdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn sie zum Unbedingten in der Reihe der Ursachen aufsteigen will, sich bei einem so sehr wie bei dem andern in Unbegreiflichkeiten verwickelt, indessen daß doch der letztere (Mechanism) wenigstens Brauchbarkeit in Erklärung der Erscheinungen hat, man niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen. Aber auch die Erfahrung bestätigt diese Ordnung der Begriffe in uns. Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (KpV, § 6, Anmerkung, Bd. V, S 29-30)

7Ich mag mich hier bei KANT täuschen, aber einige textkritische Stellen möchte ich bringen. Kant  ist oft sehr  naturrechtsskeptisch, kennt nicht den Begriff einer positiven, vom Vertrauen getragenen Freiheit: „ Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde ebendieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten […]«, was nur durch Übergang in den status civilis möglich ist. Kant fährt fort: »es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach [durch Verweigerung des Eintritts in den Staat] damit droht.« (MdS I, § 42, Bd. 8, Ausgabe Weischedel, Originalseite A 157) Dass der „kategorische Imperativ“ sehr wohl die Gleichheit und Autonomie und Personalität des Vernunftwesens anstrebt – siehe die Argumentationen bei B. Grünewald – Link zu download Der kategorische Imperativ Kants 1. Teil  

8Wenn jeder/jede anscheinend nach KANT an der Staatskonstruktion durch Wahlen mitreden kann, so ist das noch kein Schutz der Grundrechte. Die Volks-Gesetzgebung vollzieht sich praktisch immer durch Mehrheits-Votum und die theoretische Mitwirkung an ihr schützt noch nicht denjenigen, der zur überstimmten Minderheit gehört.

MdS § 46, A 166: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können. (…) Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Theil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d.i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil desselben, sein will.“

Eine Volks-Gesetzgebung verläuft praktisch nie einstimmig, sodass ideal gesagt werden könnte, der allgemeine Wille stimmt mit dem Einzelwillen völlig zusammen. Praktisch gibt es nur selten Einstimmigkeit in einer „allgemeinen Gesetzgebung“.

9Ein Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt ist bei KANT ein frevelhafter Gedanke – siehe z.B. MdS II Teil, A S 173ff u. A 165 – 172: „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d.i. der Unterthan soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum), werkthätig vernünfteln. Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urtheilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will. — Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis) als ein Factum vorher gegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn wollte der Unterthan, der den letzteren Ursprung nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschenden Autorität wider|setzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d.i. mit allem Recht, bestraft, vertilgt, oder (als vogelfrei, exlex) ausgestoßen werden. (…) (MdS II Teil § 49 A 173ff)

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser