Es gibt unzählig viel Literatur zur Heideggers Sein und Zeit (1927). Als junger Mensch war ich sehr eingenommen von dieser Lektüre. Im Feuer transzendentaler Kritik schwindet aber alles dahin.
Sein wird nach Aristoteles in mehrfacher Bedeutung ausgesagt. Zuletzt gelesen bei M. Gerten.1
Heidegger sieht in einem impliziten Verstehen des Seins die Grundlage seines Fragens nach dem Sein.
1) Das Modell und die Form des Fragens wäre aber bereits mein erster transzendentaler Kritikpunkt.
Siehe Blog – https://www.platonjgf.net/kritische-gadamerlektuere-1-teil/
Nach FICHTE ist die Seinsfrage und generell das Denken, das Anschauen, keine objektiv vorhandene geistige Tatsache, sondern eine Tathandlung. Das Dasein muss aus der Analyse des Bewusstseins entfaltet werden und nicht umgekehrt. Oder anders gesagt: Das Dasein ist dem Bewusstsein untergeordnet und nicht vorgeordnet, wie HEIDEGGER es einnehmend behauptete.
Unser Leben beginnt mit interpersonaler Affirmation, die infolge des Seinssollens von Freiheit, Reflexion und Selbstbewusstsein natĂĽrlich auch Negation mit sich fĂĽhrt und die ganze Bildlichkeit des Reflektierens.
Wie diese Bildlichkeit des Reflektierens möglich ist, dazu berufe ich mich hier beispielhaft auf Fichtes „Anweisung zum seligen Leben“ (1806) (abk.=AzsL)
(Es könnte natürlich jede beliebige WL zum Anlass genommen werden!)
Ein Artikel in einer neueren Fichte-Studie hat mir sehr geholfen, einen Überblick für die AzsL zu bekommen. Ich danke hier J. N. Jaenecke. Er hat sehr übersichtlich mehrere Kommentare, u. a. von R. Lauth und W. Janke, zu einer „genetischen Phänomenologie“ der AzsL zusammengefasst.2
Mit dem Sein wird begonnen, daraus wird das Dasein und der Begriff abgeleitet, aus welchem wiederum das Ich qua Reflexion entwickelt wird. Die Liebe bindet schlieĂźlich das Ich zurĂĽck an das Sein.3
Es ist ja fast unvermeidlich, dass bei einer Lektüre von Aszl nicht Heidegger einfällt. Viele Begriffe kehren nämlich wieder, aber in einem ganz anderen Sinne!
2) Nach der stilisierten „Seinsfrage“ bei Heidegger möchte ich vor allem als 2. Punkt kritisch betrachten, dass das Selbstverständnis des Subjekts oder „Daseins“ ja eine schlimme dogmatische und quasi empirische Behauptung ist! Dem subjektiven Dasein wird das objektive, absolute Sein relational entgegengesetzt (im Denk- und Reflexionsakt) und beide bestimmen sich wechselseitig und sind dogmatisch vorausgesetzt.
Das hat mit einem wahren Denken des Absoluten nichts mehr zu tun, das ist schlichter Realismus/Idealismus, Reduktionismus des SchlieĂźens vom Denken auf ein Sein und umgekehrt des Bestimmens des Denkens durch ein Sein.
Es geht dieses Fragen nach dem Sein und dem späteren Sinn des Seins dem Scheine nach um eine Erkenntnisform transzendentalen Denkens, so als könnte und mĂĽsste die transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Wissens erst gefunden werden – durch einen Modus des Fragens nach dem Sinn von Sein.
Da uns aber diese transzendentalen Erkenntnisbedingungen des Seins nicht bekannt sind, bedarf es einer phänomenologischen Analyse bzw. einer Besinnung durch Philosophie, die Bedingungen der Wissbarkeit des Seins wie des denkenden Seienden aufzusuchen. (Natürlich sind mir die Grundlagen der Phänomenologie, wie bei HUSSERL beschrieben ebenfalls suspekt. Sie sind totale Doktrin – siehe Blogs dazu z. B. https://www.platonjgf.net/kritischer-husserllektuere-1-teil/)
3) Da Seinsverstehen das „Urphänomen der menschlichen Existenz“ (Heidegger 1978, 199) ist, verbindet sich die ontologische Fragestellung mit einer reflexiven Motivation einer Selbstklärung. 4
Die „durchsichtige Fragestellung“ der Seinsfrage sei gleichbedeutend mit einem „Durchsichtigmachen“ des „Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind (Heidegger 1977, 10).5
Mit dem Begriff des „Daseins“, das nach dem Sinn von Sein fragt, ist m. E. Bereits eine derart massive, fundamentalistische Objektivierung getroffen – neben der Voraussetzung eines unbekannten „Seins“ -, eine Art platonische Entität, dass es mich nicht wundern muss, wenn zukünftig alles in einem Subjektivismus und und Narzissmus des besorgten Seienden „Mensch“ endet, abgesehen jetzt noch vom absoluten Sein selbst.
Wenn das Vernunftwesen „Mensch“ sich in seinem Verhältnis zum unbekannten Sein relational definieren will, dann Gnade uns Gott, was alles zu diesem dunklen Sein gehören soll und und was nicht – und wie sich das herausgehobene Seiende „Mensch“ dazu verhält.
Meine Hauptbedenken: Es ist a) keine interpersonale, praktische Intentionalität in diese Urform des Sich-Verstehens und Wissens hinterlegt; b) die Relationalität zum Sein wird zwar nicht explizit anti-theologisch formuliert, aber im Fehlen des Gottesbezuges wird das ganze folgende Denken der hypostasierten Seinsart „Mensch“, des „Daseins“, der „Existenz“, eine leere Selbstreflexion, eine bloße gedachte Relation des Verstehens von Sein, aber ohne Anschaulichkeit dieser Relation oder des Verstehens.
Wie ich dem Handbuch „Ontologie“ entnehme, so würden wir heute diese Hervorhebung des Seienden „Dasein“ geradezu anthropozentrisch beschreiben, als überhebliche Selbstinszenierung.
„Eine Formulierung Kierkegaards (1848/2002, 13) aufnehmend, fasst Heidegger dies als die „Auszeichnung“, „daĂź es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ (Heidegger 1977, 16). „Seinsverhältnis“oder „Seinsverständnis“ sind jene „Seinsbestimmtheit des Daseins«, welche (bewusstes) menschliches Leben von anderen Entitäten unterscheidet (Heidegger 1977, 16). Auch den Ausdruck „Existenz“ möchte Heidegger in analoger Weise restriktiv verwenden, Dieser bezeichne „das Sein selbst“ nur sofern Dasein sich zu diesem „so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält“ (Heidegger 1977, 16).“6
4) Ich will den direkten Kommentar zu Heidegger bereits stoppen, es gibt eh 100000 Kommentare! – und mit Fichtes Aszl und J. N. Jaeneckes Hilfe beginnen, einige Vergleiche herzustellen.
a) Das „Eigentliche“ (um im Jargon Heideggers zu sprechen), das anscheinend vergessene Sein (esse) liegt natürlich im Absoluten und ist das Absolute.
Aber aus dem Sein wird eine Lehre abgeleitet, eine Seinslehre, also muss es in irgendeiner Weise bekannt und bewusst sein.
Von der Seinslehre wird dann ĂĽbergeleitet zu einer Daseinslehre und Bildlehre und Stufenlehre.7
Nach den Vorbereitungen der Begriffe Leben und Totsein (1. Vorlesung), Denken und Meinen, kommt es in der 2. Vorlesung zur AnkĂĽndigung eines philosophischen Nachdenkens ĂĽber das Sein:
[D]as reine und selbstständige Denken […] allein ist das Auge, dem Gott sichtbar werden kann. Das reine Denken ist selbst das göttliche Daseyn; und umgekehrt, das göttliche Daseyn in seiner Unmittelbarkeit, ist nichts anderes, denn das reine Denken“ (SW Bd. V, 2. Vorlesung, S. 418; AzsL GA 1/9, 69).
Denken muss selbst zu einem Element des wahrhaftigen Lebens werden. Wie es nun die philosophische Aufgabe grundsätzlich ist, nach dem Grund zu fragen, sich mit den „höchsten Elementen der Erkenntnis“ (AzsL, GA 1/9, 85) zu beschäftigen, darf es nicht wundern, wenn dem Denken eine so hohe Aufgabe zukommt – wie gerade das Zitat aus der 2. Vorlesung sagt!
Dabei kann ohne weiteres dagegen gehalten werden, dass Denken natürlich nicht der ganze und umfassende Lebensausdruck des Vernunftwesens ist. Eine restriktive Verwendung des Denkens im Verständnis der ganzen Lebenausaufgabe schadet nicht, bindet das Denken ausdrücklich zurück auf seine Lebensquelle – siehe dann Schlussbemerkungen zur Liebe.
J. N. Jaenecke gliedert für mich sehr übersichtlich und kurz die Aszl, ausgehend vor allem von der 3. Vorlesung: Die Aszl vollzieht zuerst a) in einem reduktiven Aufstieg die Applikation des Schemas „esse-essentia-existentia“, um überhaupt die Relation Absolutes/Denken zu erreichen, ferner b) in einem Abstieg, der in der Form der Darstellung zugleich eine Synthesis des Aufstieges sein muss, die umgekehrte Applikation des Schemas „existentia-essentia-esse“, aber jetzt unter „esse“ das weltliche Sein gemeint, das vom göttlichen Licht durchdrungen sein kann und in der Lebensform Liebe das Absolute (Gott) wieder zu erreichen vermag. 8
Die Seins- und Daseinslehre ist die philosophia prima. Bildlehre und Seinslehre als philosophia secunda eröffnen dann fünf mögliche Reflexionsbereich des Sich-Wissens, d. h. sowohl eine Erkenntnis der Erkenntnis der fünf Bereich des Seins wie eine motivierte Rückkehr und Abkehr von der Mannigfaltigkeit zur Einheit des absoluten Seins (zu Gottes Sein) im praktischen Leben.
Deshalb auch der markante Titel: Anweisung zu einem seligen Leben. Im Denken kann ein Teilbereich des seligen Lebens erreicht werden.
Wie könnte ich mit Heidegger gleich mit dem untergeordneten Dasein eines endlichen Subjektes, einer endlichen „Seinsart“ Mensch beginnen, wenn zuerst vom absoluten Sein und Dasein Gottes ausgegangen werden muss?!
5) Jetzt konkret zum Text der Aszl: Wie kann sich im Denken selbst das absolute Dasein des absoluten Sein offenbaren? Entsprechend lautet auch die erste Aufgabe des Denkens, „das Seyn scharf zu denken“ (AzsL GA 1/9, 85).
Ich zitiere hier nur die präzisen Zusammenfassungen von J. N. Jaenecke: „Erster Schritt (1.): Sein (esse) des absoluten Seins. Ist der Entschluss des reinen Denkens gefasst, das Sein zu denken, so leuchtet ein, dass das wahrhaftige Seyn […] nur […] als ein Seyn von sich selbst, aus sich selbst, durch sich selbst“ (AzsL GA 1/9, 85) gedacht werden kann. Damit ist das Sein als ein in sich geschlossenes Singulum gedacht und mit dem Sein des xv Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804-2 identisch.“9
„Zweiter Schritt: Wesen (essentia des absoluten Seins. (…)“
Das absolute Sein Gottes wird von Fichte in seinem Wesen als unveränderlich, zeitlos und raumlos beschrieben, es ist „ganz, ungetheilt, und ohne Abbruch, Alles, was es durch sich seyn kann, und seyn muĂź“ (AzsL GA 1/9, 86).
„Das Sein kann nur als absolutes Sein gedacht werden, denn in seiner Absolutheit besteht sein Wesen.“10
Die von Heidegger dogmatisch eingeführte Relationalität (Wechselwirkung) Seiendes/Sein, was ist das für eine Standpunktreflexion?
(Es geht mit der begrifflichen Folgerung aus dieser Wechselseitigkeit bei Heidegger dann über zu dem Begriff „Existenz“ – als Seinsbestimmtheit des „Daseins“.)
Wiederum total andersherum bei Fichte, in der Aszl (oder in anderen Wln): „Dasein“, „Existenz“ kommt nur dem Absoluten zu: Dem esse des absoluten Seins folgt die essentia, der essentia folgt das absolute Dasein, d. h. die existentia des absoluten Seins, das endliche Dasein hat nur abgeleitetes, theologisch gesagt, „geschaffenes“ Sein. 11
Es ist hier weit und breit von keinem endlichen Dasein eines Vernunftwesens oder irgendeiner subjektivistischen oder objektivistischen Standpunktreflexion die Rede!
6) Bei dieser Terminologie Fichtes kommt mir Spinoza in den Sinn: Er wollte ähnlich wie später Fichte von einer Substanz (dem esse) ausgehen und zur Welt kommen, die er in zwei Attributen, der Ausdehnung und des Gedankens einteilte. (Wobei es unendlich viele Attribute geben kann, die uns aber nicht bekannt sind.)
Das Absolute ist esse, essentia, existentia, einzig, unteilbar, unendlich, ewig.
Die offenbarungstheoretische Seite des Absoluten, die doch irgendwie vorausgesetzt werden muss, zeigt sich in den Attributen cogitatio und extensio.
Die Modi drĂĽcken die Attribute aus. Sie sind Affektionen der Attribute, sei es die des Denkens, der Wahrnehmung, der Begriffsbildung, des FĂĽhlens, des Wollens.
Die Körper schließlich sind modi des Attributs Ausdehnung.
Sozusagen präsentationstheoretisch versucht Spinoza eine prima philosophia aufzubauen, „Deus sive natura“.
Dahinter liegt der Grundfehler eines angenommenen Real-Verhältnisses von Substanz und Modus.12
Fichte würdigte einerseits Spinoza, andererseits kritisierte er ihn stark für dieses Real-Verhältnis. Das offenbarungstheoretische Denken des Absoluten muss anders geschehen, sodass wirklich aus dem Absoluten abgeleitet und zu ihm zurückgekehrt werden kann per intellegibler Reflexion und intellektueller Anschauung und praktischer Schematisierung der Wirklichkeit im Ganzen.
7) Zurück zu AzsL: Das esse und die essentia ist gleichzeitig die existentia des absoluten Seins. „ Dieses Dasein ist das Bewusstsein und die Vorstellung des Seins, gleichsam Bild des Seins, „ihr Seyn außerhalb ihres Seyns“ (AzsL GA 1/9, 87), das Ist zu dem Sein.
„Mit der Offenbarung des absoluten Seins im Dasein ist nun ein lokaler Höhepunkt der Argumentation erreicht.
Es besteht jedoch die Gefahr, dass „unsere Vereinigung mit dem Absoluten, als die einzige Quelle der Seeligkeit“ (AzsL GA 1/9, 87) durch eine „unermeĂźliche Kluft“ (AzsL GA 1/9, 87) zwischen Sein und Dasein, dem Absoluten und dem Bewusstsein, unmöglich gemacht wird. Aus diesem Grund muss das aus dem Sein entwickelte Dasein nun in einem neuen Beweisgang wieder auf das Sein zurĂĽckgefĂĽhrt werden.“13
Das Dasein des absoluten Daseins wird „durch den Nachweis initiert, „daĂź das – Daseyn des Seyns – notwendig ein – SelbstbewuĂźtseyn seiner (des Daseyns) selbst, als bloĂźen Bildes, von dem absolut in sich selber seyenden Seyn, seyn – mĂĽsse, und gar nichts anderes seyn könne“ (AzsL GA 1/9, 88)“ 14
Das Bewusstsein ist reflexiv verfasst, ist Selbstbewusstsein, Dasein des Daseins, und kann durch Freiheit auf das Absolute zurĂĽckzufĂĽhrt werden.
Ich muss jetzt aus Zeitgründen diesen langen Weg der Vernichtung des selbstbewussten Wissens (nicht der Existenz, was nicht möglich ist) in und aus der Intellektion und Rechtfertigung desselben aus der Wahrheit überspringen, siehe J. N. Jaenecke oder andere Blogs von mir zu diesem Thema der Erkenntnisbegründung des Wissens. Auf jeden Fall bleibt nur übrig, das reflektierte Dasein des Daseins, d. h. ein Selbstbewusstseins des Seins, ein wahres Bild vom Sein des Seins, wenn vorausgesetzt wird, dass sich das absolute Sein äußert.
Wie klingt das bei Heidegger? Da die Bezogenheit des endlichen Daseins zum absoluten Sein von vornherein aufgemacht und behauptet ist, b) schließlich das Sein selbst als temporal erscheint, welche Wahrheit liegt in der behaupteten Selbstklärung und Selbst-Reflexion des Fragens nach dem Sinn des Sein? Ist das nicht alles Phantasie, methodisch unbegründet und in und aus keinem Wahrheitsbegriff gerechtfertigt?
„Heidegger geht deshalb nicht nur davon aus, dass Existenz aus der Zeitlichkeit des Daseins erklärbar wird, was in einer Diskussion der Sorge als Sein des Daseins gezeigt werden soll. DarĂĽber hinaus soll sich auch eine „ursprĂĽngliche Sinn-bestimmtheit des Seins“ und aller „seiner Charaktere und Modi aus der Zeit“ erweisen. Heidegger 1977, 26).
Die spinozistischen Modi der Wahrnehmung, so kann man das wohl mit Spinoza vergleichen, werden zu Kategorien oder „Existentialien“ des Freiseins, des Offensein, des Schuldigsein, des Gewissens, der Angst, des Mitseins, der Sprache, der Räumlichkeit, des Gestimmtsein, der Leiblichkeit usw, wobei ein melancholisch-pessimistischer Grundzug des Seins zum Tode vorherrscht.
Nach Heidegger wird der Sinn des Seins durch die Zeit vermittelt, transzendentalkritisch nach Fichte ist es gerade umgekehrt: Die Zeit wird durch den Sinn des Seins geschaffen und vermittelt.
Alles Sein, Fragen, Denken, Anschauen, ist keine objektivistisch vorhandene geistige Tatsache, (platonische Entität), sondern eine Tathandlung. Das „Dasein“, wenn man diesen Begriff für das Subjekt überhaupt noch verwenden will, weil er so mehrdeutig ist, muss aus der Analyse des Bewusstseins entfaltet werden und nicht umgekehrt, das Bewusstsein aus dem „Dasein“.
Das Bewusstsein ist Stoff bzw. das Produkt der ursprünglich produzierenden Einbildungskraft, aus der das Denken die, mit Heidegger gesagt, „Existentialien“ wie Freisein, Offensein, Sorgetragen, Schuldigsein, Gewissen, Angst, Mitsein, Sprache, Räumlichkeit, Gestimmtsein, Leiblichkeit usw. ableitet und in ihrem Wert und Rang sittlich bestimmen kann, wobei noch ganz andereCharakteristika für das Menschsein relevant werden als Heidegger beschrieben hat. E. SIMONS und F. BADER führen besonders die Interpersonalität an; ein R. LAUTH das existentielle Denken auf Sinn und Zukunft und Auferstehung hin. Soweit ich die italienische Fichte-Forschung kennengelernt habe, legt sie viel Wert auf die mannigfaltigen Bezüge des sittlich-praktischen Setzens von Sein u. a. Beispiele ließen sich bringen.
8) Während bei Heidegger das für sich bereits hypostasierte, dogmatisch angesetzte Dasein der Seinsart „Mensch“ in unerkannter Relationalität zum temporalen Sein, als potentielle Möglichkeit, weiter aufgeladen wird, wird bei Fichte das Dasein des Vernunftwesen in freier Abhängigkeit vom esse (des absoluten Daseins) zur begnadeten existentia und essentia einer selbständigen Form des Selbstbewusstseins, eines vom göttlichen Licht durchdrungenen Seins subjektiver wie objektiver Natur.
Das Daseins des Seins in der Form des Selbstbewusstseins (oder äquivok von mir immer gebraucht als Bewusstsein), ist in seinem Innersten ein dauerndes unwandelbares, einziges und EINES Dasein des absoluten Daseins des Seins.
Die Argumentation verläuft jetzt umgekehrt zum oben geschilderten Schema Sein-Dasein: Der Analyse des absoluten Seins wird zum synthetischen Aufstieg: vom existentiellen Setzen und Entgegensetzen des absoluten Seins, ferner zur identischen Einheit von essentia und esse des absoluten Seins (in der Bildlehre) und übergehend zu einer seinshaften Praxis und Liebe.
Zur genaueren Ableitung der ebenfalls drei Schritte in der AzsL siehe wiederum bei J. N. Jaenecke sehr ĂĽbersichtlich!
a) Der RĂĽckgang des Daseins auf das absolute Sein wird durch den Nachweis initiiert, „daĂź das – Daseyn des Seyns – notwendig ein – SelbstbewuĂźtseyn seiner (des Daseyns) selbst, als bloĂźen Bildes, von dem absolut in sich selber seyenden Seyn, seyn – MĂĽsse, und gar nichts anderes seyn könne“ (AzsL GA 1/9, 88)15
Das Selbstbwusstsein muss Dasein des Daseins sein, „das Daseyn muĂź Sich selber als bloĂźes Daseyn, fassen, erkennen und bilden“ (AzsL GA 1/9, 88)
Es muss sich der Wahrheit nach – der Existenz nach kann es sich nicht vernichten – begründen in Intellektion und „Selbstvernichtung“ in und aus der absoluten Wahrheit. Das Dasein des Selbstbewusstsein (Bewusstsein) versteht sich, nach freiem Vollzug, notwendig als Bild des Seins16, als notwendiges Sehen 17und als genetische Vernunft. 18
Die offenbarungstheoretisch vorausgesetzte Selbstäußerung des Daseins des absoluten Seins ist als Bedingung der Möglichkeit der Äußerung des Seins – als apriorische Identität von esse und essentia in intellektueller Anschauung wahrgenommen (eingeholt) im Bilden und Sehen und vernünftigem Wissen.
b) Das Wesen des absoluten Daseins ist im Selbstbewusstsein (der Form nach) erkannt und erkennbar, und bleibt nicht ein unerkanntes Sein wie bei Heidegger.
Das könnte jetzt unter dem starken Streben des Sittengesetzes zu dem herkömmlichen Begriff eines transzendenten Gottes in einer Religion projiziert werden.
Das tut Fichte hier natürlich nicht, sondern möchte direkt dieses Projektion einholen in weiteren notwendigen Denkschritten der Explikation, sozusagen als apriorische Vernunftoffenbarung. (Das platonische pro-eidenai.)
„Nun ist also die Eigenständigkeit und Absolutheit des Daseins erwiesen und gezeigt, dass „das absolute Daseyn […] die AeuĂźerung und Offenbarung des Seyns sey, in seiner einzig möglichen Form“ (AzsL GA 1/9, 88).
Das Dasein des reflexiven Bewussteins ist absolutes Dasein des Seins – und kann deshalb wieder zu Gott zurückgeführt werden.
Wie Fichte dieses Beweisziel erreicht – siehe dann die weitere Lektüre bei J. N. Jaenecke oder siehe meinen Blog zur AszL (3. Teile). https://www.platonjgf.net/stichworte-zu-j-g-fichte-die-anweisung-zum-seligen-leben-1-teil/
„Nun ist dieses Daseyn selber, auf sich ruhend und stehend […] und [wir haben] Dieses sein Seyn, sein Reales, lediglich Unmittelbar wahrzunehmendes: Leben genennt“ (AzsL GA 1/9, 89).
9) Der herkömmliche, projizierte Begriff eines transzendenten Gottes wird in seiner ontologischen Differenz nicht vereinnahmt, aber transzendental (als Leben, Praxis, Liebe) eingeholt und vollzogen, gelebt, weil Sein (esse) im Wesen absolutes Dasein und als Wesen identisch ist mit dem Bilden des Selbstbewusstseins (Bewusstseins).
Anders gesagt: Durch die hypothetische vorausgesetzte Seinsidentität zwischen absolutem Sein und absoluten Dasein im Wesen (offenbarungstheoretisch) wird durch Freiheit in ihrem unableitbaren Akt eine notwendige Synthesis von realem inneren Gesetz der Selbstäußerung des Absoluten und gleichzeitig wahrgenommener Äußerung dieser Identität von Wesen (essentia) und absolutem Dasein (existentia) eine sittliche, genetische Wertung gesetzt.
Es ist eine Rückführung des Daseins auf ein lebendiges Dasein Gottes gefordert – in einer Bildlehre – (siehe dann vor allem 8. Vorlesung AzsL), es kommt zum Form-Begriff und Ich-Begriff und zu den mannigfaltigen Spaltungen in der Erkenntnis der Welt.
Die Selbstständigkeit des Ich wird zur Erscheinung gebracht, die Freiheit kann sich unableitbar vollziehen – gerade deshalb, weil ihr inneres, reales Gesetz im absoluten Dasein der Erscheinung des Absoluten (oder dann Sich-Erscheinung zu nennen) substantiell begründet liegt. Sie kann sich vollziehen, muss sich nicht, wenn sie sich wahrhaftig vollzieht und dadurch zu einer Vernunftlehre übergeht. (Siehe die Darstellung in der WL 1804/2 im 27. Vortrag.) 19
J. N.Jaenecke fasst das obige Schema von Sein – Wesen – Existenz des Absoluten (bzw. als Schema „Sein-Dasein“ geschildert) als Schema „Absolutes – Wissen – Ich“ oder als Schema „Sein-Dasein-Begriff/Ich-Liebe“ zusammen.
„In der Dreieinigkeit von Sein, Dasein und Liebe vollzieht sich das Selbstverhältnis des Absoluten.“ 20
Die genetische Phänomenologie des Absoluten findet dann ihren Abschluss in der Stufenlehre von Sinnlichkeit, Legalität, Moralität und Religion, wobei das Denken von Selbständigkeit und Selbstbewusstsein zurückkehrt zum Ausgangspunkt unwandelbarer, einziger, geschlossener Einheit des absoluten Seins.
„Das reale Leben des Wissens ist daher, in seiner Wurzel, das innere Seyn, und Wesen des Absoluten selber, und nichts anderes; und es ist zwischen dem Absoluten, oder Gott, und dem Wissen, in seiner tiefsten Lebenswurzel, gar keine Trennung, sondern beide gehen völlig in einander auf“ (AzsL GA 1/9, 89).
Welch ein abgrundtiefer Unterschied zu Heidegger: Dort findet in der Temporalität des Seins und der zusätzliche, hauptsächlich ängstlich beschriebenen Temporalität des außerordentlichen Seienden „Mensch“ gar nicht zu einer Einheit und Einzigartigkeit zurück – soweit ich Heidegger gelesen habe. (Vielleicht gibt es andere Abschlüsse?)
Es könnte dann noch das spätere Denken Heideggers zur Sprache beigezogen werden, wodurch sich aber die prekäre Situation eines temporalen Seins nicht ändert.
Fichte endet seine philosophische RĂĽckfĂĽhrung des Denkens auf das absolute Sein mit einem Verweis auf den LOGOS des Johannes-Evangeliums bzw. auf ein Wort bei 1 Joh: „Das lebendige Leben ist die Liebe“ (AzsL GA 1/9, 169). „Die Seligkeit selbst besteht in der Liebe“ (AzsL GA I/9, 173).
Zum Logos-Begriff siehe Blogs von mir zur transzendentalen Daseinsanalyse nach E. Simons.
© Franz Strasser, 10. 11. 2025
1 Michael Gerten, Sein oder Geltung? Fichte-Studien Bd. 47 (2019), S 207 „(….) Der griechische Wortstamm on/to on mehrdeutig ist (Metaphysik v11 1, 1026a 33). Im Folgenden stelle ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und nur mit Blick auf ihre Wichtigkeit fĂĽr die weiteren AusfĂĽhrungen – verschiedene Bedeutungen der Wortfamilie,Sein‘ auch sprachlich heraus und verdeutliche sie durch Beispiele:
– Sein als Da-Sein, Existenz,,da ist‘ (= es gibt).
Beispiele: „Pferde existieren, Einhörner nicht“, „Das Dasein Gottes ist um- stritten“, „Da ist niemand“ = „Es gibt niemanden“.
Zusatz: Existenz‘,,Dasein‘ wiederum sind selbst mehrdeutige Wörter. Sie können wie in den vorstehenden Sätzen die Tatsache kennzeichnen, dass etwas existiert, können aber auch zur Benennung der ganzen Dauer/der Einheit des Existierens gebraucht werden: „Seine Existenz ist gescheitert“, „Er war mit seinem Dasein zufrieden“.
– Sein als Was-Sein, Beschaffenheit, (wesentliche) Bestimmtheit, Wesen. Beispiele: „Das Sein der Person ist mit dem Sein einer Sache nicht zu ver- wechseln“, „Das eigentliche Sein der Dinge bleibt uns verborgen.“ Sein im Sinne der Urteilskopula mit der Funktion etwas (zu Bestimmendes) als etwas (Bestimmtes) durch Prädikate (Bestimmungen/Bestimmtheiten) zu bestimmen. Diese Bestimmungsfunktion enthält zwei Momente: (a) die Synthesis der bestimmenden Prädikate mit dem zu bestimmenden logischen Subjekt/Gegenstand, und (b) eine (in der Regel nur implizit mitbehauptete) Geltungsprätention (Wahrheitsanspruch), denn von der Synthesis wird zugleich behauptet, dass sie ist im Sinne eben von,gilt/wahr ist‘ (sog. ‚veritatives Sein‘). Beispiele: „Die Erde ist eine Kugel“ (= ausformuliert: „Die bestimmende Synthesis des Planeten Erde mit der Bestimmung der geometrischen Form der Kugel gilt/ist wahr“).
2Jan Niklas Jaenecke, Fichtes Darstellung der genetischen Phänomenologie in der Anweisung zum seligen Leben. Fichte-Studien Bd. 52 (2023), 197-218.
3 J. N. Jaenecke, ebd. S. 199, Anm. 1.
4Ich halte mich mangels Zugang zu Bibliotheken bei der Zitation von Heidegger an das „Handbuch Ontologie“, hrsg. v. Jan Urbich u. Jörg Zimmer, Metzler-Verlag, 2020, Stichwort: Fundamentalontologie: Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, S. 187ff. Artikel von Tobias Keiling u. Nikola Mirkovic.
5Handbuch Ontologie, ebd. S. 187.
6Handbuch Ontologie, ebd. S. 188.
7Vgl. J. N. Jaenecke, Genetische Phänomenologie, ebd. S. 200 ff.
8 Vgl. J. N. Jaenecke, Genetische Phänomenologie, ebd. S. 200.201.
Vgl. AzsL GA 1/9, 55: „Das Leben ist selber die Seeligkeit […] denn das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe, und entsteht aus der Liebe“ oder vgl. Aszl GA 1/9, 57: „Seyn, – Seyn, sage ich, und Leben, ist abermals Eins und Dasselbige.“
10 J. N. Jaenecke, ebd. S. 202.
11Wobei mit „geschaffen“ natĂĽrlich keine Als-Relationalität ausgedrĂĽckt werden soll. Siehe Fichtes twl. Befremdlich wirkenden Ă„uĂźerungen zum Schöpfungsbegriff – siehe z. B.Blog von mir zu: Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, 13. – 17. Stunde – 3. Teil
15 J. N. Jaenecke, ebd. S. 202./203
16 J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes WL 1804/2, 1977, S. 172. „Das Bild ist notwendig wahres Bild: denn wäre es in seiner Essenz nicht wirklich Bild, so könnte es nicht bilden noch abbilden, weder sich noch anderes.“