1) Nehmen wir an, dass Mohammed tatsächlich Offenbarungen („wahy“) Gottes vernommen hat, die er – nach islamische Ăśberlieferung konnte er nicht schreiben1 – dann jemanden diktierte, damit sie im Koran und als Koran festgehalten wĂĽrden. Diese Offenbarungen sind mehr als personale, sind göttliche Manifestationen gewesen. Was sie als Inhalte und Aussagen von Gott genau enthalten, das ist meines Erachtens der strittige Punkt, denn die Wahrheit einer Aussage muss am Wahrheitsbegriff selber gemessen werden.
Der Wahrheitsbegriff enthält zwei Bedingungen: 1.) Die tatsächliche Einsicht in die Möglichkeit einer göttlichen Wahrheit – wie von Mohammed behauptet – muss idealiter erwiesen sein, d. h. dass tätsächlich das Verhältnis Gott und Mensch der Bedingung der Möglichkeit nach so gedacht werden kann;
das wäre aber realiter zu wenig: 2.) der Begriff der Wahrheit müsste sich in der zeitlichen Realisierung und in der Praxis bewähren, als Erscheinung, als genetisches Setzen, das unmittelbar in sich und aus sich und durch sich (de jure) selbstbegründend und selbstrechtfertigend ist, also auf Gott zu verweisen vermag.
Kann Mohammed diese a) Einsicht in die Wahrheit Gottes rein theoretisch erklären und darlegen und kann er b) die Bewährung der Einsicht in einem wahrhaften Bildsein, in einer wahrhaften Objektivierung der Liebe – als der Begriff eines de jure Seins, einer causa sui der Selbstbegründung und Selbstrechtfertigung – in einer zeitlichen Realisierungskette beweisen und darstellen?
Nun will ich Offenbarungen Gottes an Mohammed oder an andere Menschen prinzipiell für möglich halten zu Bedingungen der Vernunft, der Kommunikation und des interpersonalen Austausches.
Mit welchem Recht darf jetzt Mohammed behaupten, er habe diese oder jene Worte, die im Koran und als Koran aufgeschrieben wurden, gehört und als unmittelbare Offenbarung Gottes empfangen, wenn sie unmoralische Forderungen sind wie Zwangsbekehrung, Vernichtung des Feindes, Verwünschung in Ewigkeit u. a. m.? Kann aus solchen unmoralischen Folgerungen auf ein De-jure-Wahrsein eines Wortes Gottes geschlossen werden? In einer implikativen Grund-Folge Beziehung wohl nicht, als stünde die Genesis der Folgerung in unmittelbarer Funktion und Beziehung zu Gott, der sich selbst zur Ursache einer unmoralischen Forderung erklären würde.
Ein Wille, der sich zu unmoralischem Handeln entschließt, kann nicht durch sich selbst bestimmt und allmächtig sein, sondern ist von außen bestimmt.
Nur ein aus der Wahrheit Gottes (gen. subj. und gen. obj.) sich bewährendes Bildsein und Wissen um ein Wort Gottes lässt einen RĂĽckschluss auf einen seienden Begriff Gottes zu.Â
Kann der Prophet Mohammed die im Koran niedergelegten Worte Gottes in ihrer Vielfalt und Breite, in ihrem ganzen Geltungsanspruch, bewähren? Wie sieht der zeitliche Weg der Realisierung des Sich-Bildens und Bewährens der Worte des Korans aus? Vom Faktum her wird der Anfang erkennbar. Der Begriff des Anfangs bei Mohammed ist schon Resultat eines faktisch durchgeführten Begreifens, das einerseits genetisch abgeschlossen, andererseits zum Werden und zur Zeit hin geöffnet ist und sich bewähren muss können. 2
Wie wird die Kontinuität eines ewigen Bestandes des Korans gedacht? Es bedarf ja eines Mediums der Vermittlung desselben. Kann ein mündliches Wort oder ein geschriebenes Wort, der Buchstabe, das Zeichen, das Symbol, von sich verstanden werden ohne intellektuelle Erfassung im Geiste, was gemeint sein? Wie könnte aber eine intellektuelle Erkenntnis eines Wortes möglich sein, wenn die Vorgabe des geoffenbarten Wortes mit Druck und Gewalt und militärischer Herrschaft und Kopfsteuer etc… aufgezwungen wird? Und wie könnte ein unmoralischer Inhalt als Offenbarung Gottes verstanden und rezipiert werden? Der Glaube oder die „Hingabe“ (=Islam), selbst der Gehorsam des Glaubens, verlangt eine freie, rezipierende Annahme des Gesagten. Das hermeneutische Verstehen eines Textes verweist von sich her auf eine von sich her sich offenbarende und rechtfertigende und sich in Zeit und Geschichte bewährende Sinnidee, die ich einsehen muss können.
Anders gesagt, die Zurechenbarkeit von Wahrheit muss die kommunikationstheoretische und ontologische Grundlage sein, ein Wort als „Wort Gottes“ wahrzunehmen – gleich um welche „Religion“ es sich handelt.
Wenn das mündliche oder geschriebene Wort des Korans die Dauer und die Kontinuität der Wahrheit eines göttlichen Wortes garantieren soll, so muss der Koran wenigstens in Ansätzen eine freie Nachbildung des Gehörten und Geschriebenen ermöglichen, mithin eine projektive Idee eines tieferen Sinns des Gesagten im eigenen Erkenntnisakt. Die Wahrheit des Wortes Gottes wird sich ja wohl nicht ändern!
Der Gehalt oder die Sinnidee muss eine Art „Lösungs-Idee“ sein, hier und heute und für Zeit und Ewigkeit gültige Idee und Antwort. Diese „Lösungs-Idee“ wird existentielle Fragen nach dem Wie und Woher des Vernunftwesens aufgreifen, Fragen nach einem sinnerfüllten Leben, nach Liebe, nach Überwindung des Bösen, der Vergebung der Schuld, die Frage nach dem ewigen Leben und ähnliches stellen.
Gibt es diese „Lösungs-Idee“ im Islam? Manche werden sagen, ja.
Und wie kann individuell der Zugang zu dieser Sinnidee/Erlösungsidee und zu diesem Orientierungswissen gefunden werden, d.h. wie ist ein Zurechnung möglich?
Mir scheint, dass dem Islam hier wesentlich eine sogenannter Begriff der „Kirche“ fehlt, in der, zumindest dem Ideal nach, es zu schöpferischen Bedingungen des Geistes eine qualitative Nach-Bildung der Offenbarung gibt. Natürlich oft sehr mangelhaft aufgrund der Sündhaftigkeit der Vermittlung, aber prinzipiell in Zeit und Ewigkeit.
Kennt der Islam eine solche Gemeinschaft des Geistes und der Liebe und der Solidarität, in der in Zeichen ein qualitativer Gehalt eines Wortes Gottes aufleuchtet? Manche werden ebenfalls sagen, ja.
3) M. a. W., ein implikativer Begründungsanspruch einer erfahrenen Offenbarung Gottes muss sich in zeitlicher und geschichtlicher Faktizität, in einem wahrhaften Bildsein, bewähren können. Diese zeitliche Konkretion und Synthese von Begriffen, die eine göttliche Wahrheit verkünden und in eine zeitlichen Realisierung und in ein erlösendes Telos überführen, ist erkenntniskritisch eine appositionelle Reihe und Ordnung. Im reflektierenden Denken baut sich ein zeitliche und geschichtliche Reihe auf, in ap-positioneller Nebeneinandersetzung, und in evidenten Begriffen des Sinns kann sich die Wahrheit einer Offenbarung bewähren. Mohammed beruft sich dann und wann selbst auf eine geschichtliche Reihe, wenn er auf Abraham, Ismael etc. verweisend, den Wahrheitsgehalt der empfangenen Offenbarungen herausstellen will.
Eine nur implikative und autoritative Begründung von Worten, Weisungen, Aufforderungen, Mahnungen, Drohungen, anscheinend aus dem Willen Gottes heraus abgeleitet, von Mohammed gehört, von irgendjemand aufgeschrieben, wäre nicht möglich, wenn nicht ein Mindestmaß an Freiheit und freier Mitkonstitution von Seiten des Menschen in appositioneller Reihe und appositioneller Nachbildung (Zurechenbarkeit) möglich wäre.
Kann der Begriff der Freiheit im Nachvollzug des Gehörten – mĂĽndlich oder schriftlich – durch die höchste und sich selbstbegrĂĽndende Evidenz des Guten und Heiligen (des Gottesbegriffes) nicht generiert werden, d. h. kann Freiheit des Nachvollzuges in einer religiösen Aussage nicht mehr erkannt werden, ist eine wahrheitsgemäße BegrĂĽndung und Rechtfertigung nicht mehr möglich. Es ist Ideologieverdacht angebracht.
Ob Gott sich dem Mohammed in Worten geoffenbart hat, mündlich und dann schriftlich als Kanon fixiert, kann vernunftkritisch nicht für unmöglich erklärt werden, wenn das Gehörte und Aufgeschriebene mit den prinzipiellen Gesetzen des vernünftigen und moralischen Denkens und der menschlichen Freiheit und einer appositionell-zeitlichen Vermittlung kompatibel ist. Eine bloß instruktionstheoretische Belehrung oder „Bekanntmachung“ a la „Offenbarungscritik“ (Siehe oben 1. Teil) wäre aber höchst prekär und unsicher. Nur faktisch und dogmatisch zu behaupten, dieses oder jenes Wort des Korans sei von Gott geoffenbart und deshalb wahr, entbehrt der Möglichkeit reflexiver und zeitlicher Bewährung.
4) Es muss die Evidenzmöglichkeit einer absolut sich selbst begrĂĽndenden Wahrheit zuerst a) fĂĽr den Offenbarungsträger selbst und b) fĂĽr den hörbereiten, gläubigen Hörer/Leser jederzeit möglich sein. Die von Gott an Mohammed  angetragenen Intentionen seien keine bloĂź sinnlichen Empfindungen, sondern WillensäuĂźerungen, GemĂĽtsbewegungen gewesen – wie A. M. Karimi sagt. Der Koran schlieĂźlich sei ein „ästhetisches Ereignis“, ein „ existentielles Erzittern“ ThpQ, Linz, Nr. 164 (2016), 265-271.
Das halte ich alles für möglich – und wenn ich arabisch könnte, hätte ich vielleicht ein ästhetisches Erlebnis beim Lesen des Korans, aber was ist unter Ästhetik und einem Erlebnis dann gemeint? Wird die Bedeutung eines lautmalerischen Zeichens, die Bedeutung einer sprachlichen Sequenz, die Schönheit eines Versmaßes, durch eine bloße Wiederholung wahr? Ein Vers, eine Satzmelodie erhält nicht durch sich selbst seine/ihre Schönheit und Bedeutung, sondern erst durch den (die), der (die) weiß, wofür das Zeichen steht und was es bezeichnet. Gibt es eine epistemologische Begründung von Schönheit und Wahrheit einer angeblich religiösen Offenbarung ohne Begriff eines die Schönheit und Wahrheit wissenden Wissens, ohne appositionelle und reflexive Realisierung, ohne Bildlichkeit, worin Wahrnehmung, Gefühl, Ästhetik, Ethik erst einen zusammenhängenden Sinn bekommen?
Die Wahrheitsfrage muss fĂĽr den Koran –  wie fĂĽr die Bibel, fĂĽr jede Religion, fĂĽr jede Wissenschaft – gestellt werden dĂĽrfen, sonst ist ein Gespräch nicht mehr möglich – und diese Wahrheit muss rational dargestellt werden, sonst ist ebenfalls ein Verstehen nicht möglich.
© Franz Strasser, Okt. 2017
1Laut eines Biographen des Mohammed sei der Prophet vom Engel Gabriel dreimal gewĂĽrgt und gezwungen worden – siehe diverse Literatur in islamischen Quellen. Das kann historisch-kritisch wohl aufgelöst und gedeutet werden. Die Frage des Nachvollziehung und des Verstehens des geoffenbarten Wortes (kalimah Allah) als „Herabsendung des Herrn der Welten“ (Sure 26, 192), durch den Engel Gabriel (Jibril), dem Mohammed geoffenbart, muss die Möglichkeit einer freien Nachbildung und appositioneller Reihe in sich tragen.
2Zur Formulierung eines transzendentalen Anfangs und generell einer transzendentalen Zeitbestimmung siehe J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, WĂĽrzburg 1988, 276 – 286.