Nach einer Kritik am Sinnbegriff N. Luhmanns, hauptsächlich seiner begrifflichen Dialektik und dem daraus folgenden Form-Begriff wegen (1. – 4. Teil), muss ich mich irgendwann selber outen, wie ich den Sinnbegriff verstehe.
Ich will dazu die ersten sieben Vorlesungen von FICHTES „Thatsachen des Bewusstseyns“ vom WS 1811/12, Kollegnachschrift Halle, fhs 2 (frommann-holzboog Studientexte) 2003, 287 – 391, (=GA IV/4, 125-191) (abk.=TdB), kommentieren,1 vorallem deshalb, weil diese Vorlesungsreihe als ganze eine ausdrückliche Phänomenologie der individuellen und allgemeinen Sinnsuche sein will – und die Systemtheorie und das Differenzdenken oft beansprucht, von ähnlichen Bestrebungen und Antwortversuchen und Sinngebungen auszugehen.
Die „Beobachtungen“ der TdB bewegen sich aber natürlich innerhalb geprüfter Erkenntnisprinzipien, also nicht auf dem Boden zufälliger, empirischer Messungen und Beobachtungen, die dann zu „Sinngebungen“ hochstilisiert werden.
Die TdB sind, anders gesagt, weitere Folgerungen aus den Prinzipien der späten Wissenschaftslehren, die von der Erscheinung des Absoluten ausgehen – und somit die Frage nach der Bestimmung des Menschen, des einzelnen Individuums wie der Gesamtheit der Menschheit, aufwerfen. So eigenen sie sich gut, die von der Differenzphilosophie, der Existenzphilosophie, der Phänomenologie aufgeworfenen Sinngebungsverfahren und Geltungsansprüche einzuholen und zu beantworten.
Wenn von vornherein von einer Erscheinung des Absoluten (Gottes) ausgegangen wird, so ist natürlich damit bereits eine absolute Werthaftigkeit und Sinnhaftigkeit gesetzt. Sie Frage ist nur, wie das einzelne Individuum und schließlich in Einheit mit allen anderen diesen Endzweck der Erscheinung des Absoluten sichtbar machen und zu einem Sinn des Lebens schematisieren kann.
Die Fragen um die Bestimmung des Menschen haben Fichte immer beschäftigt. Im Rahmen der Erkenntnissuche nach Wahrheit und Gewissheit, ferner im Rahmen der Suche nach Freiheit und den Bedingungen eines möglichen Bewusstseins, taucht immer wieder diese Frage nach dem Sinn auf. Die TdB sind dann eine besonders schöne Analyse – wobei ich nur bis zur siebten Vorlesung interpretieren will – zum Sein Gottes und der individuellen wie allgemeinen Sichtbarkeit von Wert und Sinn aufzusteigen.
Anders gesagt und gefragt: Der von der Erscheinung des Absoluten aufgestellte Erscheinungs- und Endzweck, also der höchste Wert von Liebe und Sinn, wie kann er im Leben des Individuums gelebt und gefunden werden? Die Antwort in der TdB wird sein – das mag vorerst enttäuschen? – dass weder theoretisch noch praktisch der Endzweck der Erscheinung des Absoluten erkannt werden kann, weil er als Ganzer von einer endlichen Freiheit nicht eingesehen werden kann. Es bleibt bei einer endlichen Bestimmtheit des Vernunftwesens, das nur teilabsolut im Bestimmtwerden und Selbstbestimmen den absoluten Geltungsgrund (den Sinn, die Seligkeit) finden kann. Er kann aber in unendlicher Reihe der Sichtbarkeitsbedingungen erzeugt werden, d. h. soll erzeugt werden. Wie die sinnliche Natur in sich bereits eine zielgerichtete Ausgangsbasis darstellt für das freie Handeln, so kann für das Bewusstsein eine freies Wollen und Handeln korrelierend zur Erscheinung des Absoluten gefunden werden – in sukzessiver Weise. Eine Sinn-Erfahrung des einzelnen ist möglich, weil mit der Erscheinung des Absoluten (Gottes) zugleich eine aus dem göttlichen Sein erschienene Möglichkeit des Werdens und des Schaffens von Sichtbarkeiten göttlicher Transzendenz gesetzt ist.
Man kann die TdB gut als „Erscheinungslehre“ bezeichnen, weil der Sinnbegriff in seiner Werthaftigkeit immer klarer zum Ausdruck kommt, weitab von einer bloß aus Beobachtung gewonnenen, naturalistisch oder systemtheoretisch begründeten Theorie zum Sinn (des Lebens). Zusammengefasst: Es wird ausgegangen von der Wahrnehmung und durch Analyse aufgestiegen zum Sein Gottes.
Ich benutze neben dem Fichte-Text einen Aufsatz von Mario Jorge de Carvalho, Ausdehnung und Freiheit, Fichte-Studien, Bd. 45 2.
1) FICHTE beginnt in den ersten Vorlesungen dem Wortsinn des Begriffes „Sinn“ nachzuspüren, insofern er ganz bei der sinnlichen Erfahrung der äußeren Wahrnehmung beginnt.
Schließlich werden aber noch fünf Hauptkapitel mit Unterkapitel und 35 Vorlesungen folgen (ab der 8. Vorlesung, S 303 – 391), wodurch der Sinnbegriff a) einerseits eine präzisere Bestimmung erfährt – als Anforderung und Erfüllung eines Triebes (vgl. zum Trieb ab 33. Vorlesung S 369ff) und b) für den Bereich des „höheren Bewusstseins“ als „Billigung“ oder „des Rechtheißens“ (ab 37. Vorlesung ebd. S 373ff) eines übergeordneten Solls (41. Vorlesung, S 384) gefunden wird.
Wie R. Lauth in vielen Vorträgen herausgearbeitet hat: Der Sinnbegriff vermittelt das Faktische mit dem Moralischen und umgekehrt. Eine sinnliche Hemmung ist bereits a) eine gewisse intelligible, geistige Materie, bedeutet einen Naturtrieb, der sich spontan äußert, welcher Trieb in seiner Möglichkeit aber b) ein höheres, reflektiertes Angehen gegen die sinnliche Hemmung voraussetzt, und c) nochmals vermittelt ist in Interpersonalität und im Verhältnis der Freiheit zu einem heiligen Willen. Die freie, höchste sittliche Intention und Stellungnahme gehört konstitutiv zu allen Sinn-Erfahrungen, die geistige Erfahrung bedingt die natural-sinnliche Erfahrung.
Anders gesagt: Es ist mit dem Begriff „Sinn“ eine höchst komplexe Funktion des Bewusstwerdens verbunden, der zuerst auf eine einzige Qualität gerichtet ist, empfunden und gefühlt wird, aber sehr schnell wird klar, dass der Sinn mit einer Mannigfaltigkeit von verschiedenen Qualitäten zusammenhängt und einen Totalsinn der Sinnesempfindung und der Empfindbarkeit voraussetzt, weiters mit Ausdehnung und Freiheit engstens verbunden ist, weil in einem einen und einzigen Akt des Sich-Setzens des Wissens (des Bewusstseins) begründet. Die Vorlesungen werden zeigen: Der Sinnbegriff wächst durch seine differenzielle Bestimmung in seinem intelligiblen Gehalt.
Es wird sozusagen ganz „unten“ mit der Sinneswahrnehmung begonnen. Diese wären aber ohne höhere transzendentale und sittlich-praktische Erkenntnisgründe und Rechtfertigungen nicht verstehbar.
Anders gesagt: Die rudimentäre, erste Sinn-Erfahrung (Sinn-Erlebnis) enthält schon die ratio essendi eines späteren, differenzierten, ideellen und intelligiblen Sinnbegriffes in sich. Auf der Stufe der wirklichen, ersten Sinn-Erfahrung, d. h. beim Gefühl, wird begonnen – und muss stets zurückgegangen werden – und zur höchsten Stufe einer alles erfüllenden Sinnidee wird aufgestiegen.
Die transzendentale Analyse und Frage nach den Bedingungen der Wissbarkeit von etwas offenbart in letzter Konsequenz einen alles Streben erfüllenden Sinn.
Die Sensualisten bleiben wie gebannt vor der faktischen Sinn-Erfahrung stehen. Die Idealisten und Rationalisten – im engen Sinn des verstandlichen Denkens – übergehen gut und gerne die qualitative Wirklichkeit der konkreten naturalen Sinn-Erfahrungen und die adäquate Erfassung sittlich-praktischer Erfüllung in der Intentionalität und im religiösen Wissen. Bei Fichte wird genetisch gedacht: Nur wenn sinnliches Leben, Leib, Seele, Geist, Sprache, Kommunikation, Freiheit u. a. m. auf eine höchste Sinnerfahrung in der göttlichen Seligkeit hingerichtet sind, durch den Trieb als Prinzip geleitet, gibt es die adäquate Kongruenz und Möglichkeit und Wirklichkeit einer Sinn-Erfahrung – in sukzessiver Weise.
Das Gefühl ist schon Beziehung auf ein werthaftes Gesetz, das durch den Triebbegriff eine gewisse sinnhafte Werterfahrung ermöglicht.
Die Beobachtungen und Experimente der Naturwissenschaft inklusiv z. B. soziologische Beobachtungen, sie könnten als Sinn-Erklärungen und Sinnerfahrungen gar nicht verstanden werden, wenn nicht ein transzendentaler Möglichkeitsraum der Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit aufgespannt wäre. Das Denken einer geistigen Sinn-Erfahrung ermöglicht die sinnliche Sichtbarkeit und Verstehbarkeit.
Anders gesagt: Die Teilhabe am ideellen Sinn-Begriff ist Voraussetzung jedes faktischen Rezeptionsbezuges. Die ideelle Wertintention, die der Sinnbegriff repräsentiert, muss klar auf jeder Stufe der sinnlichen Erkenntnis und und sinnhaften Erfahrung veranschlagt werden.
Die Teilhabe – was jetzt in ihrem Wie des Denkens und der Reflexion anhand der WL genauer dargestellt werden könnte – ist eine Frage des gesetzhaften Bildens und der Sich-Bewährung des Bildens in und durch die Erscheinung Gottes (siehe dann letzter Teil der TdB, leider ebenfalls sehr kurz, 43. Vorlesung, ebd. S 388 – 391), welche Teilhabe auf die zeitliche Realisierung bezogen natürlich eine unendliche Aufgabe ist, aber im genetischen Sinn immer und zeitlos möglich und zeitlos gültig ist (vgl. dort S 386).
Dem Prinzip nach ist diese Genesis des Sinn-Begriffes in einer vollkommenen Sinn-Idee vollendet und geschlossen, ist a priori gewiss und unwandelbar, erst auf zeitlicher Ebene gibt es die diskursiv gegliederten Stufen der Sinn-Erfahrungen oder negativ gesprochen, der Wider-Sinn-Erfahrungen.
De facto ist eine zeitliche Realisierung der Sinnidee mit wechselndem Erfolg behaftet, aber eine Transzendierung ist selbst in der Wider-Sinn-Erfahrung gegeben, sonst würde sie als solche ja gar nicht empfunden.
Ich beschränke mich hier, wie gesagt, nur auf die ersten sieben Vorlesungen, auf den sinnlichen Bereich des Gefühls und der Wahrnehmung. Über den sinnlichen Bereich der Sinnerfahrung ist dann notwendig hinauszugehen, wie sich bereits ab der 7. Vorlesung anzeigt.
Die Theorien zum Sinn sind Legion: Denken wir an die Phänomenologie bei HUSSERL, an die Systemtheorie bei Luhmann, an manche Semiotik oder Existentialhermeneutik – überall wird von Sinn gesprochen, aber was dessen Begriffs-Idee wirklich ist, wird sie begründet und gerechtfertigt? Oder man verlässt sich z. B. auf die Sprache – und ist hilflos oder vertrauenswürdig, je nachdem, wie man das sieht, ihrem Gebrauch und Spiel einer Sinn-Repräsentation ausgeliefert. Ein WITTGENSTEIN bekannte im Tractatus wenigstens, dass seine logischen, metasprachlichen Reflexionen letztlich keinen Sinn haben, sollten sie nur logisch gelesen werden. Sie wären nur Tautologien ohne dahinterliegendes Sich-Verstehen der logische Sätze. (Die Funktion der logischen Sprachbilder hat er dann später ausgeweitet im Sinne des alltäglichen Gebrauches.)
Unter einem Begriff verstehe ich eine im Bewusstsein gefundene Form und Objektivierung eines Wissens, liegend zwischen einer Evidenz und einem System des ganzen Wissens, deshalb als Projektion und als Bild benennbar, als anschaulicher Wert.
Im Begriffs-Wert kann ein erkennbarer Unterschied zwischen den prinzipiellen Möglichkeiten einer Idee und den prinzipiellen Möglichkeiten seiner Evidenz auf der Ebene der Wirklichkeit ausgemacht und angewendet werden.
So ist z. B. die Sinneserfahrung oder die Wahrnehmung im Tasten, Schmecken, Riechen, Sehen, Hören deshalb eine Sinn-Erfahrung, weil das mögliche Begreifen und Verstehen von vornherein transzendierend geöffnet ist auf einen Gesamtbezug zwischen sinnlicher Natur und Freiheit.
Im Tasten, Schmecken, Riechen, Sehen, Hören objektiviert sich dank des Triebes eine unmittelbare, dynamische Öffnung des Sehens und Sich-Bildens auf ein mögliches, freies Begreifen eines Wertes und auf eine größere Freiheit hin. Die erste, quasi prästabilierte Hinordnung auf das Mögliche in einer sinnlichen Erfahrung konkreter Natur begreift/versteht sich dann als „hart“, „süß“, „duftend“…. weil (unbewusst) auf das Mögliche in der Konkretion von Wert- und Freiheits-Erfahrung geschaut wird.3
Dank des Triebes ist das Sehen auf ein mögliches Begreifen hin geöffnet.
1.1) „Thatsachen, Facta des Bewußtseyns wollen wir darlegen, also nicht erdenken, nicht mit Freiheit die Objecte bilden sondern sie anschauen wie sie sind, wie sie sich von selbst uns geben vermöge ihres objectiven Seyns“ (TdB, 1. Vorlesung, 21. 10. 1811, fhs2, 287.)
Wenn man sich in eine solche Schrift Fichtes hineinliest, so fällt einem sofort auf, dass seine Analyse von einem landläufigem Verständnis von Wahrnehmung weit abweicht, obwohl er mit einem scheinbar Bekannten beginnt. Hat nicht auch PLATON in den Gesprächen bei Sokrates mit dem Vordergründigen begonnen und ist dann aufgestiegen zur Ideenlehre? Fichte endet, typisch wie bei PLATON, mit dem Begriff des „Gesichtes“ (41. Vorlesung, ebd. S 383), griechisch „Idee“ und des unbildbaren Grundes aller Erscheinung, einem Sein Gottes in der Erscheinung.
Er beginnt mit einer Worterklärung der äußeren Wahrnehmung: Sie ist Wahrnehmung jedes möglichen Gegenstands in einer Welt außer uns, in der Welt des nicht Ichs.
Fassen wir sie im Allgemeinsten als Wissen überhaupt: Das äußere Wahrnehmen faßt nicht auf das Object selbst, sondern die Vorstellung des Objects; sie giebt das Bild, das Schema des Gegenstandes. Sie giebt sich aus als gleich mit dem Object von einer Seite und als nicht gleich von der andern Seite.“ (ebd. S 289)
Wesentliches Moment von Fichtes Erörterung der äußeren Wahrnehmung und eines ersten Sinn-Begriffes sind zwei Grundbestandteilen: Sie besteht aus Qualität bzw. Empfindung – „Qualität sagen wir in Beziehung aufs Object. In Beziehung auf den Sinn ist Qualität Empfindung.“ (ebd. S 290) – und der Ausdehnung – siehe dann die 2. 3. 4. und 5. Vorlesung.
Schaue ich auf den Begriff Sinn, so beginne ich also zuerst bei der Wahrnehmung und Affektion. „Denn kein Sinn, keine Qualität. Daher lernt man die Qualität nicht kennen auf dem Wege der Mittheilung (…), sondern einzig durch den Sinn. (Der Sinn selbst muss affizirt seyn.“ (ebd. S 290.)
M. a. W. nur durch eine unmittelbare Fühlungnahme mit einem Korrelat, nur im Zusammenhang mit etwas anderem, in einer Wechselwirkung, kann also berechtigt von einer Qualität bzw. einer Empfindung gesprochen werden, oder, was dasselbe sagen soll, ist eine erste, rudimentäre Sinnes- und Sinnerfahrung möglich.
Es beginnt jetzt explizit das reflexologische Aufsteigen: Jede Qualität einer Sinneserfahrung wirkt zurück auf eine zuerst (…) „allgemeine Weise des Sichbewußtwerdens des Sinnes.“ (ebd. S 290), denn eine einzelne Sinneserfahrung oder eine Qualität ist bereits etwas Konkretes innerhalb einer viel weiteren, mannigfaltigeren Sinneserfahrung. (Vgl. ebenfalls bei PLATON über die Zentrierung des Wissens im Theaitetos 184c ff – siehe Blog.)
„Die Qualität ist also eine Beschränkung des Allgemeinen auf ein Besonderes, des Farbensinnes z. B. auf diese und diese bestimmte Farbe. Die Qualitäten am Objecte sind demnach gegenseitig sich aus schließende Bestimmungen des Sinnes.“ (ebd. S 290)
Es gibt keine wahrgenommene sinnliche Qualität als etwas Losgelöstes, Isoliertes, sondern es verhält sich vielmehr so, „dass jede sinnliche Qualität sozusagen im Zeichen der Mehrzahl erscheint.“4
M. a. W., die Sinneserfahrung oder der Sinnbegriff ist imprägniert mit Qualität und Inhalt, Mannigfaltigkeit und sittlichen Werten – ganz zum Schluss wird es heißen, eingeordnet in ein System von Ichen (ebd. S 390)- , und leitet durch die Reflexion über zu einer quantitativen Beschreibung dieser Qualität und zu einer analytisch-synthetischen Logik der Gegensätze und ihrer zu findenden Vereinigungen. (Der Übergang von der kategorialen Qualitätsempfindung zur quantitativen Beschränkung und Bemessung ist m. E. ein Glanzstück der transzendentalen Ableitung, wäre aber ein eigenes Thema.) 5
Die Sinneserfahrung wird wahrgenommen im Gegensatz zu anderen Möglichkeiten, ist markante, entschiedene Empfindung, oder, m. a. W. Hemmung. Sie steht im Spannungsfeld anderer (vielleicht nicht explizit bewusster) Möglichkeiten der Sinneserfahrung und Sinn-Erfahrung überhaupt.
Realistisch könnte jetzt eine Bedingungsverhältnis zwischen einem supponierten Vermögen des Sinns (einem Organ des Sinns wie Sehsinn, Tastsinn) und einer konkreten Wahrnehmung aufgebaut werden, aber das ist bereits dogmatisch gedacht und vorausgesetzt. Ein Sinnesorgan darf nicht vorausgesetzt werden. 6
Eine „phänomenologische“ Einholungsweise eines Gefühlten oder Angeschauten, wie ich das bei HUSSERL las und nicht verstehen konnte, ist dogmatisch mit vielen realistischen und idealistischen Vorgaben belastet, weil der Erkenntnis- und Rechtfertigungsgrund z. B. des Tastsinns oder des Sehsinns, transzendental nicht gegen das Sinn-Vermögen des Wissens selbst abgegrenzt und eingeholt ist. Wir haben uns zwar derartig an „phänomenologische“ und sensualistische und physikalistische Theorien gewöhnt, dass wir uns der transzendentalen Voraussetzungen nicht mehr bewusst sind, aber deshalb werden sie nicht wahrer und nicht denkbarer. Früher oder später kommt keine Wissenschaft um die explizite Darlegung der transzendentalen Erkenntnisbedingungen eines tätigen Ichs und seines Bildens herum, wodurch so etwas wie Sehen und Hören und Riechen und Schmecken, oder vorhergehend die Ableitung der Wirksamkeit eines leiblichen Ausdrucks, gedacht werden können. Die Begriffsmöglichkeiten müssen aus dem Vorstellungsvermögen abgeleitet werden – und nicht umgekehrt. Wenn sozusagen auf der „untersten“ Ebene der äußeren Wahrnehmung nicht schon auf die transzendentalen Bedingungen der Wissbarkeit geachtet wird, wie sollte dann a fortiori ein höherer, geistiger Sinn übrig bleiben für interpersonale, moralische, religiöse oder geschichtliche Sinn-Ideen?
Es liegt offensichtlich ein „dynamischer und spannungsgeladener Charakter“ 7 in jeder Qualität und Sinnesempfindung, der als unterscheidender Charakter zu anderen Qualitäten und Empfindungen in quantitativer Weise weiter kategorial bestimmt werden kann.
Vorausblickend gesagt: Die Reproduktionsformen der Einbildungskraft, die Anschauungsformen Zeit und Raum, die Verstandesbegriffe, die praktischen Reflexionsideen, das höchste Gesetz der Freiheit, sie fließen als konstitutive bzw. als regulative, je nach Standpunkt der zu beschreibenden Bedingungen, in das basale Erleben eines Gefühls (einer Empfindung) ein, sodass im elementaren Auffassen des Gefühls und der Wahrnehmung der Sinnes- und Sinnbegriff eine konstitutive, intelligible und wert–relevante Bedeutung von allem Anfang an enthalten ist!
© Franz Strasser, 22. 12. 2018
1Dies ist die zweite Vorlesung „Thatsachen des Bewußtseins“ im Wintersemester 1811/1812. Zum ganzen Vortragszyklus der viermal? vorgetragenen „TdB“ siehe die verschiedenen editorischen Angaben in der GA, oder bei Rainer Adolphi, Fichte-Studien Bd. 32. 2009, Anm. 49. GA II/12 u. GA II/15 u. GA IV/4. Zu ihrem Verhältnis der vier Vorträge im allgemeinen bes. GAIV/4, 73, 78. – „Auch in Bezug auf die Thatsachen des Bewußtseyns gilt wie für alle seine (späteren) Vorlesungen, dass Fichte jedesmal neu ansetzt. Dabei fallen die drei (bzw. wie zu mutmaßen ist: alle vier) Vorlesungen freilich deutlich unter zwei große Typen: weithin ähnlich die ersten, und mit der letzten vom Winter 1812/13 ein wesentlich neues Muster begründend. Auch Fichte selber hat dies reflektiert (SW IX, 406).“ (Rainer Adolphi, ebd. S, 102)
2Mario Jorge de Carvalho, Ausdehnung und Freiheit, in: Fichte-Studien Bd. 45, 2018, 61 – 91.
Das Thema Beobachtung: Aus einem Glossar (leider nicht mehr abrufbar) wird die Beobachtung bei N. Luhmann so kommentiert: „Beobachtung ist eine Operation von psychischen und sozialen Systemen; es ist die Operation der Unterscheidung. Anhand von Differenzschemata werden so Informationen erzeugt, wobei Erwartungen des Beobachters erfüllt oder nicht erfüllt werden. Jede Beobachtung setzt eine Unterscheidung voraus, die sich selbst nicht mehr mit der gleichen Unterscheidung noch einmal beobachten kann. Das Bewusstsein ist z. B. hinsichtlich des „Sehens“ gekoppelt an einen nur eingeschränkten Bereich des Lichts. Es kann damit wahrnehmen; aber nicht so wahrnehmen, daß es gleichsam wahrnimmt, dass es nicht „alles“ wahrnimmt.
Um die Unterscheidung, die benutzt wurde, beobachten zu können, muss sie bezeichnet werden, und eben das setzt eine andere Unterscheidung voraus, in deren Rahmen die erste Unterscheidung von anderen Unterscheidungen unterschieden wird. Beobachtung aktualisiert, indem sie bezeichnet, Unterscheidungen, die Realität erzeugen.“ Gerade solche Kommentare, in Klammer ist angegeben „Spencer Brown“, offenbaren für mich eine petitio principii, eine Erschleichung der Prinzipien und zeigen das ganze Ungenügen dieser mehr oder wenigen empirischen Erkenntnistheorie!
3Zum Begriff des „Begriffes“ – siehe J. Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Joh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804/2, Hamburg 1977, 59 – 64. u. 184. – 190.
4Mario Jorge de Carvalho, Ausdehnung und Freiheit, S 66, in: Fichte-Studien Bd. 45, 2018.
5Um zur Gegensatzlogik übergehen zu können, muss die Kategorie der quantitativen Selbstbeschränkung erst abgeleitet werden; diese wiederum beruht auf der Qualitätsempfindung, die aus einer Selbstbeschränkung einer triebhaften Hemmung entspringt. Der Wirklichkeitsgrund der Qualität und der Quantität, also der Möglichkeitsgrund derselben, nimmt eine genaue Stelle der Ableitung in der transzendentalen Prinzipienstruktur des Wissens ein. Siehe z. B. 26. Vortrag in der WL 1804/2. Wenn wir andere Gewissheiten setzen als die Selbstgewissheit der Wahrheit und des reinen Wollens, setzen wir anderen Inhalte, d. h. andere Qualitäten; wenn wir deren Aspekte nochmals verschieden bestimmen, bestimmen wir sie der Quantität nach. Wir erhalten so die Urformen des Phänomene des gewöhnlichen Wissens, wie sie in äußerster Kürze der 28. Vortrag der WL 1804/2 beschreibt.
6Etwas später als TdB trug Fichte „Transzendentale Logik I u. II“ vor (1812), worin er sich öfter ausdrücklich von einem idealistischen Fehlschluss abgrenzt. Siehe dort z. B. S 102ff – nach der Studientextausgabe des Frommann-Holzboog-Verlages, fhs, 4, 1, 2019.
7Mario Jorge de Carvalho, Ausdehnung und Freiheit. Ebd. S 64.