Fichtes Sittenlehre 1798 – 3. Teil – § 3 – 2. Teil

II Hauptstück, Deduktion der Realität, und Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit. (S 62)

Es ist offensichtlich, dass FICHTE von vornherein seine Philosophie als eine Theorie der Praxis und zur Praxis versteht. Die philosophische Reflexion in specie, d. h. wie er  den Leser und Hörer seiner  Wln und anderen Disziplinen der WL lenkt und führt, damit er sich zur Höhe dieser Abstraktion und zu einer unmittelbaren Erkenntnis erhebe, ist selbst schon praktischer Vollzug. 

Die Synthesis mit der Realität wird dabei über den Begriff der Kausalität (Wirksamkeit) geführt. (ebd.) Der in der „Grundlage des Naturrechts“ nach Prinzipien der WL (1796) abgeleitete Rechtsbegriff war bereits Wirkung eines transzendentalen Prinzips, dort reflexiv als Geltungsbegriff und Geltungsgrund von Freiheit supponiert und eingeführt. Die jetzige Wirkung und das Denken der Wirksamkeit von Freiheit in der Sittenlehre ist aber nicht nur begriffslogisch supponiert, sondern theoretisch zwingend dargestellt, insofern durch den Trieb- und Gefühlsbegriff die Anwendungsbedingungen des Wissens mit-gewusst (con-scire) werden, d. h. ein theoretisch-praktisches Wirken und Fühlen und Wahrnehmen so erst möglich gedacht werden können. Das zugrundeliegende Prinzip und Bild von Freiheit ist im Trieb und Gefühl (und durch Trieb und Gefühl) unmittelbar  gewusst und theoretisch wirksam.

Die Höhe der Argumentation der SL im § 3 kann so umschrieben werden: Warum führt der bis jetzt deduzierte Begriff der Freiheit den Begriff der „Realität“ mit sich? (S 63) Weil der Begriff der Sittlichkeit auf das geht, was sein soll. (S 64)

Durch das begriffliche Denken soll in der Welt der Erscheinung etwas realisiert werden. Das Objekt des Begriffes – siehe ähnlich auch Einleitung zum „Naturrecht“ 1796 – ist jetzt noch erscheinend als eine „bloße“ Idee, als ein bloßer Gedanke in uns.  Ideen können nicht (sinnlich) aufgefasst werden, so wie oben nicht das Ich als Subjekt-Objekt-Einheit  vorstellbar war. Ideen sind Aufgaben des Denkens. Welches ist die Art und Weise, Ideen zu beschreiben? Dieses Ideenwissen wird sich als Anwendungswissen auf Moralprinzipien und Überzeugungswissen von Pflichten herausstellen – und insofern wird die Frage beantwortet werden, dass es das  Gewissen ist, das  auf die Realität bezogen ist. Diese Funktion und der Begriff des Gewissens ist jetzt m. E. eine bis heute absolut vernachlässigte Idee der Philosophiegeschichte! (Die Infragestellungen des Gewissens bei NIETZSCHE oder S. FREUD sind m. E. nur periphere Erscheinungen des Gewissens und betreffen nicht dessen Denken.)  

M. a. W.: Der Begriff des Sittlichkeit als Idee fragt nach einem Objekt, ohne gleich ein Objekt unserer Tätigkeit in der Sinnenwelt zu haben. (S 64)
Ich soll etwas, wenn es auch unendlich ist, da ich aber endlich bin, brauche ich einen Stoff meiner Tätigkeit. (S 65) Welches ist das Gebiet der Sinnenwelt, auf welches die Anforderungen des Sittengesetzes an mich sich beziehen? (ebd.) Ich brauche ein physisches Vermögen – vom transzendentalen Gesichtspunkte aus.

FICHTE beschreibt das wieder in äußerster Knappheit: Es geht um die Begriffe der Möglichkeit und Wirklichkeit, wie sie in einer transzendentalen Fragestellung problematisiert werden können. Indem FICHTE von vornherein fragt nach dem, was sein soll, ist eine Disjunktionseinheit  von Sein und Sollen aufgemacht – und alles  gewinnt eine spezifisch  modallogisch Fragestellung und Perspektive. Anders gesagt: Die Begriffe Möglichkeit und Wirklichkeit sind als Bedingungen der Wissbarkeit sowohl theoretisch wie praktisch bestimmt:  

Das freie Wesen handelt als Intelligenz, d. i. nach einem vor der Wirkung vorher von der Wirkung entworfenen Begriffe. Das zu Bewirkende muss daher wenigstens so beschaffen sein, dass es überhaupt durch die Intelligenz gedacht werden könne, und insbesondere, dass es als seiend oder nichtseiend, (als zufällig seinem Sein nach) gedacht werde, unter welchem Sein oder Nicht-Sein desselben dann die freie Intelligenz bei Entwerfung ihres Zweckbegriffs wähle. Hierdurch ist uns schon eine Sphäre angezeigt, in welcher allein wir das durch unsere Kausalität physisch Mögliche aufzusuchen haben, indem ein beträchtlicher Teil des Seienden durch die gemachte Bemerkung ausgeschlossen wird.“ (ebd. S 65.66)

Manches erscheint notwendig, manches zufällig. (S 66)

Das Merkmal der Zufälligkeit ist ein Produkt unserer Freiheit. In der Vorstellung ist etwas zufällig, aber deshalb, weil wir die Vorstellung als ein Produkt der absoluten Freiheit des Denkens sehen. Mit dem „Zufall“ ist jetzt nicht gemeint, dass es nur um Produkte einer abgesonderten Sittenlehre ginge, sondern um die erkenntniskonstitutive Funktion eines praktischen Prinzips generell in der Auffassung der Wirklichkeit.

Es dürfte sich etwa nach dieser Analogie ergeben, dass alles Zufällige in der Welt der Erscheinungen in einem gewissen Sinne aus dem Begriffe der Freiheit herzuleiten, und als ihr Produkt zu betrachten sei. Wenn dieser Satz sich bestätigen sollte, was könnte er wohl bedeuten? Keineswegs bloß soviel, dass diese Objekte durch die ideale Tätigkeit der Intelligenz, in ihrer Funktion als produktiver Einbildungskraft gesetzt würden; denn dies wird in einer Sittenlehre aus der Grundlage aller Philosophie als bekannt vorausgesetzt, und gilt nicht nur für die als zufällig, sondern auch für die als notwendig gedachten Objekte unserer Welt.“(ebd. S 66. 67.)

Alles Zufällige in der Welt der Erscheinung ist aus dem Begriff der Freiheit hergeleitet. Die Freiheit ist ein theoretisches Bestimmungsprinzip unserer Welt. (S 67)

Der Begriff des Freiseins gibt ein theoretisches Denkgesetz für alle Wirklichkeitsauffassung (Natur, Gesellschaft, Religion), a fortiori in der speziellen Anwendung in einer Sitten- und Morallehre.

FICHTE verweist auf das „Naturrecht“ 1796, worin ebenfalls aus einem Begriffe der Freiheit – dort durch „Aufforderung“ – auf die Notwendigkeit mehrerer Personen und somit auf die Notwendigkeit konkreter anderer Freiheit, geschlossen wurde.

Beispiele dieser Art der Bestimmung unserer Objekte haben wir schon in einer anderen Wissenschaft gefunden, in der Rechtslehre. Weil ich frei bin, setze ich die Objekte meiner Welt als modifikabel, schreibe ich mir einen Leib zu, der durch meinen bloßen Willen nach meinem Begriffe in Bewegung gesetzt wird, nehme ich Wesen meinesgleichen außer mir an, u. dgl. Nur müsste hier die Untersuchung weiter zurückgeführt, und die Beweise jener Behauptung noch tiefer geschöpft werden, da wir hier gerade bei dem Letzten Ursprünglichsten aller Vernunft stehen.“ (S 67)

Durch das Gesetz der Freiheit erhält sich eigentlich erst die So-Beschaffenheit der Welt im Fortgange der Zeit. Wir handeln  immer nach einem Zweckentwurf. Daraus folgt auch: Behandle jeden Menschen als frei;  behandle deinen Leib als Zweck deiner Freiheit.

Das Prinzip der Sittlichkeit gewinnt die Bedeutung eines Erkenntnisprinzips.  (S 68)

Dieses Prinzip ginge in sich selbst zurück, stünde mit sich selbst in Wechselwirkung; und wir erhielten ein vollendetes, befriedigendes System aus Einem Punkte. Es hätte etwas außer uns diesen Endzweck, darum, weil wir es so behandeln sollten; und wir sollten es so behandeln, darum, weil es diesen Endzweck hätte. Wir hätten die gesuchte Idee dessen, was wir sollten, und das Substrat, in welchem wir uns der Realisation dieser Idee annähern sollten, zugleich gefunden.“ (ebd.)

Es ist hier m. E. ein Höhepunkt der gesamten WL in der Formulierung erreicht, weil die speziellen Wissenschaftslehren der späteren Jahre ab 1800, die von der Ableitung der Wissens aus einer höchsten Sinnidee der ERSCHEINUNG des Absoluten sprechen, darin verborgen liegen.   Das ganze Ich  („absolutes Ich“ in der GWL, der „reine Wille“ in der WLnm) bekommt damit eine etwas nuancierte Bedeutung: Der Zweckbegriff als auch das Wollen sind nicht mehr rein als Aufgabe einer Idee zu verstehen, sondern besser als Nach-Bildung vorgegebener Ideen, geschichtlicher Ideen und religiöser Ideen. Es ändert sich nicht die Reflexionsform und transzendentale Erkenntnisart der bisherigen WLn und Disziplinen, aber der Sinngehalt der Ideen wird nochmals tiefer begründet und gerechtfertigt. 

Bereits auf dieser Stufe 1798 finde ich aber bemerkenswert, dass a) weder geflüchtet wird durch Reflexion zu einem göttlichen Sein, dass irgendwie ein Soll behauptet und autoritär verlangt, noch b) hypertroph die Reflexion selbst überschätzt wird, als könnte sie in völliger Autonomie des Verstandes und der Urteilskraft entscheiden, was Gut und Böse heißt. Der Geltungsgrund des Guten oder Bösen bleibt  unterschieden von der Geltungsform des Ich.  

 (c) Franz Strasser 31. 1. 2021

 

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser