Freiheit als Ursprung des Rechts?

Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann (Hagen): Freiheit als Ursprung des Rechts und der Sinn des Begriffs ‚Liberalismus‘ (Vortrag, KU, Linz, 27. 5. 2019)

Das Thema der Rechtsbegründung interessiert mich schon lange. Zufällig kam ich zu diesem obigen Vortrag zurecht. Ich möchte eingangs dankend hervorheben, dass a) der Referent eine Zusammenfassung seines Vortrags austeilen ließ; ferner b) dass der Vortrag online gestellt wurde, sodass man nochmals dieses so dichte Referat nacharbeiten konnte.

Es sind eigentlich zwei Themen angesprochen worden – Rechtsbegründung durch den faktischen Gebrauch der Freiheit („Koordination“) und Problem eines Liberalismus, der den Rechtsbegriff für sich missbräuchlich ausnutzen kann.

Ich möchte eingangs ebenfalls dankend erwähnen, dass die Katholische Universität Linz hier einem Öffentlichkeitsauftrag nachkommt, die Fragen der Zeit aufzugreifen. Was könnte aktueller und virulenter sein, als heute Recht und Gerechtigkeit allen Menschen widerfahren zu lassen? Es ist ein schmerzliches Thema, dass bis heute die Grundrechte und die bürgerlichen Freiheiten keineswegs durchgesetzt sind, sei es aus staatlichen Gründen, aus religiösen Gründen, aus ideologischen Gründen, wie immer. Könnte hier eine Philosophie mehr Freiheit erreichen? Millionen Menschen leider unter autoritären Regimen, leben in ungerechten Wirtschaftsverhältnissen, werden verfolgt, eingesperrt, gefoltert, ausgebeutet – und das alles im Namen einer positiven Gesetzgebung und mit staatspolitischer Räson oder aus religiösen Gründen.

1) Es wurde im Vortrag eine fĂĽr mich eigenartige RechtsbegrĂĽndung vorgetragen – durch „Koordination des Freiheitsgebrauches“? Um möglichst gerecht dem Vortrag zu sein, zitiere hier die SchlĂĽsselworte und die Zusammenfassung des Vortrages – wie von T. S. Hoffmann als handout herausgegeben:
„Zu den – oftmals undurchschauten, zumindest unausgesprochenen – Voraussetzungen im Streit um das Recht gehört ein grundlegender Dissens in der Frage, ob das Recht Freiheit durch die Gewährung von Freiheitsrechten „distribuiert“, oder aber seine wesentliche Aufgabe die einer Koordination von Freiheit ist, deren Wirklichkeit als unabhängig von ihm bereits gegeben vorausgesetzt ist. Die Auffassung, dass das Recht Freiheit(en) distribuiert, etabliert dabei notwendig eine Asymmetrie zwischen denjenigen, die Freiheit „gewähren“, und denen, die sie „empfangen“; die Legitimation des Rechts erfolgt dann entsprechend nicht aus der Normativität der Freiheit, sondern z.B. aus der Idee der (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Dagegen findet die Auffassung vom Recht als einer äußeren Ordnung zum Zwecke der Koordination des Freiheitsgebrauchs die Legitimation des Rechts in der Freiheit selbst, die sie seit Kant als Rechtsursprung zu denken vermag; was Recht ist, ergibt sich aus einer Ordnung wechselseitiger Anerkennung der Freien, und das Kriterium „richtigen Rechts“ ist jetzt die maximale Freiheitserhaltung im Freiheitsgebrauch, d.h. bei der individuellen Wahl der Mittel in der Realisierung des Freiheitszwecks. Der Vortrag zeigt, inwiefern das durch Kant grundgelegte Verständnis von Recht als einer Koordinationsordnung der Freiheit diese zugleich als Ursprung des Rechts ausspricht, das auf diese Weise seinen Sitz im freiheitlichen Selbstbewusstsein menschlicher Praxis erhält und nicht mehr aus nicht-freiheitlichen (letztlich immer auf äußere Macht verweisenden) Instanzen abgeleitet werden kann. Vor diesem Hintergrund sollen auch bestimmte Ambivalenzen im Begriff des „Liberalismus“ geklärt werden, die inzwischen immer wieder die Frage entstehen lassen, wie brauchbar er zur Identifizierung des Rechts der Freiheit (noch) ist.“ (Hervorhebungen von mir)

T. S. Hoffmann schildert KANT geradezu empathisch, endlich gibt es eine „Rechtsbegründung durch Freiheit“, nicht eine theologische oder teleologische durch die Idee des Guten. Aber hat KANT wirklich so freiheitlich gedacht? T. S. Hofmann interpretiert schlussendlich nämlich KANT durch eine mir äußerst suspekte Weiterführung bei HEGEL: Die Koordinierung des Freiheitsgebrauches als Mittel des „freiheitlichen Selbstbewusstseins“ führt zu einem „objektiven Geist“ der rechtlichen Institutionen und Einrichtungen eines Staates, zu einer Art empirisch realisierter Freiheitsidee. Das mag für KANT und HEGEL schon zutreffen, aber falsch bleibt es allemal.

Hier sträubt sich bei mir alles, denn das ist ja das GrundĂĽbel, wenn Recht und Gesetz noch immer von einem Zwangsgesetz des Staates abgeleitet werden – nicht vom Menschen- und Grundrecht (Ur-Recht) des einzelnen Vernunftwesens selbst und einer gegenseitigen, ursprĂĽnglichen Anerkennung.  

Ich las dann näher bei R. Schottky nach: 1
2) In der Tradition Hobbes und Rousseau zielt KANT auf einen „Allgemeinwillen“ ab, einen „volonté générale“ eines allgemeinen Gesetzes, wodurch das Recht garantiert und gesichert werden kann – aber gerade das ist praktisch sehr vertrackt, wie R. Schottky das bei Rousseau darlegte.

Wenn das Recht nicht von vornherein ein Naturrecht, oder, wie ich es synonym verstehe, Vernunftrecht ist, also davon abgeleitet werden kann in allen seine  Facetten, ist eine nachträgliche Einholung einer praktischen GĂĽltigkeit durch die „praktischen Vernunft“ oder durch ein allgemeines Gesetz eines kategorischen Imperativs, oder sagen wir noch allgemeiner, durch einen „Gesellschaftsvertrag“, stets prekär. Die inneren Handlungszusammenhänge eines Rechts, dass dem einzelnen in seiner begrĂĽndeten Erwartung Recht und Gerechtigkeit zuteil werde, werden sie in einem „Gesellschaftsvertrag“, der sich juristisch ausformuliert im gesatzten Recht und durch eine lange Tradition bestätigt zeigt, immer genĂĽgend respektiert?  Die innere Motivation zu einer austeilenden Gerechtigkeit, zu einer Abdeckung von Konfliken und Streitigkeiten, das kann ohne stete, lebendige Ableitung aus einer genetischen RechtsbegrĂĽndung nicht erfolgen. Gesellschaftliches Recht – was hier alles dazugehört! – kann den einzelnen schĂĽtzen aber genauso den einzelnen gefährden. (Man denke nur an das Thema Abtreibung oder Sterbehilfe oder Kriegseinsatz.)  

T. S. Hoffmann verweist auf eine „asymmetrische“ Distribution der Freiheit, wie sie in seinen Augen in früheren Rechtstheorien vorliegt, d. h. dass von irgendeiner Seite Freiheit gewährt wird, die von anderer Seite empfangen werden muss. Hingegen in der „Koordination des Freiheitsgebrauches“ kann der Rechts- und Geltungsanspruch direkt von der Freiheit abgeleitet werden. Freiheit wird gegen Freiheit verhandelt, ja gerne, aber liegt sie nicht zuerst in einem prinzipiellen Anerkennen und Sich-Vertragen, vorab zu Interessen, die nachträglich koordiniert werden müssen?  
Wenn es keine apriorischen und logisch-praktische Folgen des Rechts gibt, d. h.  keine genetische Ableitung eines Rechtsanspruches für jedes Vernunftwesen, wird durch Koordinierung und Abgleichung der Interessen noch lange nicht das Recht von allen für alle zu jeder Zeit erzeugt. Der Stärkere wird sich durchsetzen. Wer sollte schließlich die Koordination des Freiheitsgebrauches durchführen? Normalerweise eine gesetzgebende, richterliche und mit Übermacht exekutierende Obrigkeit. Aber geschieht hier dem einzelnen wirklich immer Recht, wenn das Recht nicht vom einzelnen selber ausgeht?

3) Es liegen hier viele Fragen drinnen, die m. E.  KANT selbst nicht zureichend gesehen hat. Er war skeptisch gegenĂĽber einer Art von „Naturrecht“, das  a priori jedem einzelnen Vernunftwesen zugesprochen werden muss. Erst der Gesellschaftsvertrag, der status zivils, schafft das Recht, nicht schon die vom einzelnen ausgehenden begrĂĽndeten Erwartungen und Handlungszusammenhänge.   

„Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde ebendieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten […]«, was nur durch Ăśbergang in den status civilis und durch ein positives Recht möglich ist. Kant fährt fort: »es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach [durch Verweigerung des Eintritts in den Staat] damit droht.« (MdS I, § 42, Bd. 8, Ausgabe Weischedel, Originalseite A 157 Hervorhebungen von mir.)

Ich folge hier einer Gesamteinschätzung von R. Schottky, der die Hermeneutik der Vertragstheorien des 17. und 18. Jhd. (vor allem von Rousseau) im Licht der Transzendentalphilosophie kritisch hinterfrägt und umfassende Quellen einbringt: Ein Kant folgt nach seiner Analyse leider weitgehend einem hobbesischen Naturzustandverständnis, das den vorstaatlichen Zustand als Unrechtszustand brandmarkt, und erst durch den Rechtszustand kann ein praktisches Gesetz „gĂĽltig“ werden. Aber das ist m. E. keine genetische Ableitung, wenn das Recht durch einen „Allgemeinwillen“ eines Parlamentes oder eines Diktators positiv gesetzt wird. (Siehe Blogs zur LektĂĽre von Hans Kelsens „Positiver Rechtslehre“, 1. – 3. Teil.)  

4) Die naturrechtliche/vernunftrechtliche Freiheit jedes einzelnen bleibt synthetisch und dialektisch zwar bezogen auf einen Souverän, der Gewalt und Macht haben muss, das Recht durchzusetzen, aber genetisch leitet sich der Souverän vom Ur-Recht des einzelnen ab. Der Souverän – ich lasse das hier offen, wie diese Staatsform aussehen soll – bleibt vom Begriffe her vollinhaltlich und kritikwĂĽrdig auf die Freiheit und das Urrecht des einzelnen bezogen, zu dessen Schutz und Zweck er eingesetzt ist. Anders gesagt: Der Gegensatz einzelner Freiheit und staatlich sanktionierter Freiheit muss bleiben, sozusagen eine transzendentale Kritik der gesellschaftlichen und politischen Rechtsbegriffe muss möglich sein. (Es ist im weiteren nicht mehr nur eine rechtliche Frage, sondern umfassende, soziale und gesellschaftspolitische Frage, wie der Rechtsstaat die Freiheit des einzelnen Individuums schĂĽtzen und abdecken kann. Es wird mit dem Gesamtzweck „Sozialstaat“ des Gemeinwohl in den Vordergrund gestellt, was gut und richtig sein kann, doch primär ist der Gemein-Nutzen, nicht das Gemein-Wohl wichtig.)  

Einen von Rousseau herkommenden Begriff der „volontĂ© gĂ©nĂ©rale“ als der Freiheit des einzelnen pluralisierende und universalisierende Form des Einzelwillens, ist nach Schottky eine Scheinantwort, eine „Chimäre“ .2Ein „Allgemeinwille“ holt bei weitem nicht ein praktisches und von Natur aus gĂĽltiges Recht des einzelnen ein. Die Vereinigung der Willen aller Zusammenlebenden in einen Gemeinwillen, der dann der eigentliche Staatswille sein soll, fĂĽhrt ja gerade nicht zur ausnahmslosen Respektierung aller vor der Vernunft gĂĽltiger, individueller RechtsansprĂĽche und Freiheiten?! Die „SprĂĽche“, so kann man wohl sagen, zum Volkswillen und der „Volksversammlung“ – z B. in den ersten Tagen der französischen Revolution – garantieren augenscheinlich die Freiheit des einzelnen nicht.
Wie sollte aber dann, so möchte ich fragen, das bei S. T. Hoffmann gedeutete Recht bei Kant durch die Koordination von Handlungsfreiheiten auf den Gesamtzweck der Freiheitserhaltung ausgerichtet sein, wenn kategorisch nicht von vornherein das Urrecht oder Vernunftrecht des einzelnen feststeht – und es einen Gesamtzweck fĂĽr irdische Verhältnisse nicht geben kann? Was sollte das sein? Soziales Wohl? Imperiales GroĂźmachtstreben? UngezĂĽgelter Liberalismus? Autoritärer Kommunismus?  Da ist ja die Freiheit wieder von einer prekären Koordinationsinstanz abhängig und nur  distributiv gewährt?! 

Man darf sich nicht wundern, dass ein Liberalismus diese Koordination von Freiheitsrechten für sich ausnutzt. Darauf ging T. S. Hoffmann ja im Schlussteil ein.  Was kümmert einen Liberalismus ein bloß falsches Bewusstsein von den Gesetzen der praktischen Vernunft, ein bißchen Selbstwiderspruch,  wenn er die Koordination derselben für sich entscheiden kann?  Dem Liberalismus zu sagen, er lese die KpV Kants falsch, das berührt ihn wohl nicht.  Wie sollte ein Armer, der nicht über die Mittel verfügt, die Mittel eines koordinierten Freiheitsgebrauches aufbringen?  

5) Ein Freiheitsrecht, Eigentumsrecht, Schutzrecht, muss nicht erst „gerecht“ koordiniert werden, sondern ist praktisch-logischer Syllogismus (Fichte) aus der gegenseitigen Anerkennung und einer unmittelbaren transzendentalen Würde des einzelnen. Die genetische Reflexion auf die Freiheit jedes Vernunftwesens erzeugt und rekonstruiert das Recht, zeitüberhoben, unwandelbar, nicht die verstandlich oft unzureichend einsehbare Koordination von Freiheits-Realisierungen.

Kant agiert hier m. E. blind in der Annahme eines Allgemeinwillens bzw. eines „volonté générale“ (Natürlich kann er rhetorisch und dichterisch alles bestens beschreiben!)
Nach Kant zeigt sich der Anteil der Freiheit in der Stimmabgabe eines Staatsbürgers und im Gefühl, Mitglied (nicht bloß Teil) des Gemeinwesens zu sein. Das ist aber noch lange keine aktive Partizipation am Rechtswesen des Staates und kein Wahrnehmen bürgerlicher Freiheiten, wie sie praktisch-logisch aus dem Grund-Recht und Ur-Recht folgen können.3

MdS § 46, A 166: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können. (…) Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Theil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d.i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil desselben, sein will.“ (Hervorhebung von mir.)

Eine Volks-Gesetzgebung verläuft praktisch nie einstimmig, sodass ideal gesagt werden könnte, wie J.-J. Rousseau das formulierte, der allgemeine Wille stimmt mit dem Einzelwillen völlig zusammen. Praktisch gibt es nur selten Einstimmigkeit in einer „allgemeinen Gesetzgebung“, in einer „Sache des Volkes“4 Die Volks-Gesetzgebung vollzieht sich praktisch immer durch Mehrheits-Votum, und die theoretische Mitwirkung an ihr schützt noch nicht denjenigen, der zur überstimmten Minderheit gehört. 5

Ein weiteres, gravierendes Problem: Wie kann die Staatsmacht selbst durch das Recht kontrolliert werden, welche Kontrollinstanzen über die Inhaber der Staatsgewalt  sind zu institutionalisieren? Hat hier Kant viel gesagt?
Siehe dann MdS II Teil, A S 173ff u. A 165 – 172. Ein Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt, allein schon ein frevelhafter Gedanke.

Siehe z. B. MdS II Teil § 49 A 173ff: „ Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d.i. der Unterthan soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum), werkthätig vernünfteln. Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urtheilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will. — Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis) als ein Factum vorher gegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn wollte der Unterthan, der den letzteren Ursprung nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschenden Autorität wider|setzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d.i. mit allem Recht, bestraft, vertilgt, oder (als vogelfrei, exlex) ausgestoßen werden. (…)
Ein Widerstandsrecht ist verboten!

Eine RĂĽckbindung der Staatssouveränität auf ein vom einzelnen ausgehendes Recht der gegenseitigen Anerkennung und des Sich-Vertragens – wird das methodisch von Kant eingeholt? Der „Gesellschaftsvertrag“ begrĂĽndet die vielen Spielarten des Rechts, wodurch es aber manipulierbar und korrumpierbar wird. (Zur  Untermauerung seiner Position zitiert Kant u. a. den Römerbrief 13, 1ff) 

6) Die Frage einer Problemlösungskonzeption der Sicherung und Garantie von Freiheitsrechten mittels eines allgemeinen Gesetzes aller Bürger, worunter ich eigentlich bestenfalls das Gesetz der Gleichheit ableiten kann, soll nach Kant bewusst noch ohne Moral auskommen. Es genügt, wenn die Menschen aus Furcht vor Zwang, also um des eigenen Vorteils willen, aus egoistischen Motiven, das Recht befolgen – siehe MdS I Teil A 6f, 13ff, 36f. Ich zitiere drei Stellen:

„Diese Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den zweiten die Moralität der Handlung.“ (ebd. A 6)

„Alle Gesetzgebung also (sie mag auch in Ansehung der Handlung, die sie zur Pflicht macht, mit einer anderen übereinkommen, z.B. die Hand|lungen mögen in allen Fällen äußere sein) kann doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das Letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist juridisch. Man sieht in Ansehung der letztern leicht ein, daß diese von der Idee der Pflicht unterschiedene Triebfeder von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Neigungen und Abneigungen und unter diesen von denen der letzteren Art hergenommen sein müssen, weil es eine Gesetzgebung, welche nöthigend, nicht eine Anlockung, die einladend ist, sein soll. (…)“ ( A 15; Hervorhebung von mir)

Nach der grundsätzlichen Definition des Rechts im Sinne eines formalen Freiheitsgebrauches – A 33 6 heiĂźt es § E A 36f: „Ein strictes (enges) Recht kann man also nur das völlig äuĂźere nennen. Dieses grĂĽndet sich nun zwar auf dem BewuĂźtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze; aber die WillkĂĽr darnach zu bestimmen, darf und kann es, wenn es rein sein soll, sich auf dieses BewuĂźtsein als Triebfeder nicht berufen, sondern fuĂźt sich deshalb auf dem Princip der Möglichkeit eines äuĂźeren Zwanges, der mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammen bestehen kann. — Wenn also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu fordern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu GemĂĽthe fĂĽhren, daĂź ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde, sondern ein Zwang, der jedermann nöthigt dieses zu thun, kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen nach einem allgemeinen äuĂźeren Gesetze zusammen bestehen: Recht und BefugniĂź zu zwingen bedeuten also einerlei.“ (Hervorhebung von mir)

7) Systematisch gesehen hat Kant den Begriff der Freiheit in einem genauen Verhältnis von „theoretischer“ und „praktischer“ Vernunft bestimmt. In der KrV wird die Freiheit als Möglichkeit herausgearbeitet, in der GMS und KpV wird sie im Bereich der praktischen Selbstgesetzgebung (Autonomie) mittels Sittengesetz und Anwendung durch den kategorischem Imperativ bestimmt.
Anders gesagt: In der GMS und MdS wird Freiheit rechtsphilosophisch und moralisch und politisch entfaltet, in der RGV in gewissem Sinne religiös.

Das Denken von Freiheit geht theoretisch sogar so weit, dass die Frage nach Gut und Böse durch den Akt der Freiheit hinreichend geklärt werden kann. Gut und Böse sind Fragen der Zurechenbarkeit der Maximen zum allgemeinen Sittengesetz – siehe besonders dann in der RGV. Der epistemische Rahmen des Freiheitsgebrauches und damit von Gut und Böse richtet sich nach einer unbedingten Selbst-Gesetzgebung des Sittengesetzes. Nur ist dieses „Selbst“ in der Gesetzgebung ziemlich unkonkret, abstrakt, begriffslogisch ohne Anschauungs- und Handlungszusammenhang. Ich denke z. B. an manche Entscheidungen des Verfassungsgerichtes bei uns in Ă–sterreich: Im Namen der Gleichheit wird ein historischer Handlungszusammenhang oder eine berechtigte Erwartung oder ein berechtigtes BefĂĽrchtung eines  einzelnen ignoriert. Stichwort z.B. Karfreitag, oder das Kreuz in den Klassenzimmern usw… Das nenne ich „begriffslogisch“, d. h. nur dem Buchstaben nach wird Freiheit beschworen, aber nicht in seiner ganzen Handlungsfolge. Ein nur abstrakte Verallgemeinerung des Gleichheitsgrundsatzes etabliert noch keine sittliche Ordnung und realisiert noch keine Idee der Gerechtigkeit. 7

Das Rechtsgesetz ist mit einem „Bestimmungsgrunde der WillkĂĽr ĂĽberhaupt im Subjekte verbunden“ (MdS I Teil, A 15). Kannt kennt hier eine reichlich abstrakte „Triebfeder“ der subjektiven WillkĂĽr, die er als Maxime mit dem Sittengesetz verbindet – und beschreibt die Pflichten dann als äuĂźere Rechtsgesetze.

„Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann.“ (ebd. S 15, Hervorhebung)

8) KANT argumentiert mir viel zu idealistisch, als könnten aus Begriffe, d. h. z. B. dem Prinzip der Gleichheit, dem einzelnen Recht widerfahren. Es sind die Vorstellungen, die die Erkenntnis von Objekten erzeugen, nicht die Objekte selbst – und diese sind zurückgebunden auf die lebendige Einbildungskraft von Recht und Gesetz, von Handlungsfolgen, wie sie aus dem Akt der Anerkennung und des Vertrages vom einzelnen ausgehen. Fehlt dieser genetische Herleitung des Rechts vom einzelnen aus, bleibt nur die Bewusstheit und die Beobachtung von Tatsachen des Freiheitsgebrauches bzw. von Tatsachen des geschriebenen  Gesetzes. Es gibt zwar dann wieder Klagbarkeit des geschriebenen Gesetzes möglich, aber alles sehr langwierig und  zermürbend und viel zu spät im einzelnen Gerichtsfall.8

Natürlich kann nur Freiheit der Ursprung des Rechts sein, doch Freiheit über die Faktizität des Gebrauches vermittelt, ist deren eigene Knebelung und permanente Infragestellung.

© Franz Strasser, Juni 2020

1R. Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert: Hobbes, Locke, Rousseau, Fichte : mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte 1995.

2R. Schottky, Untersuchungen, a. a. O., 79-104, 187f.

3 Läuft nicht die Deutung des Rechts als bloße Prüfung des Mittelgebrauches und als Koordinierung von Freiheiten nach T. S. Hoffmann ebenfalls darauf hinaus, möglichst eingeschränkt, liberal, das Recht wahrzunehmen, bloß die Idee und den Schein eines formalen Freiheitsgebrauches wahrend? Warum sollte ein Liberaler oder Diktator bewegt werden, die Koordination der Freiheitsansprüche anders zu denken als es ihm zum Vorteil gereicht?

4 „Republik nenne ich deshalb jeden durch Gesetze regierten Staat, gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht; weil hier nur das öffentliche Interesse herrscht und die öffentliche Angelegenheit etwas gilt. Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch. (In der Fussnote: Republik ist jede Regierung, die vom Gemeinwillen geleitet wird, der das Gesetz ist.) J. J Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Reclam-Ausgabe, 2. Buch, 6. Kapitel, S 41.

5Deshalb finde ich es nach wie vor problematisch, wenn plakativ und demonstrativ in großen Lettern im Saal des Verfassungsgerichtshofes in Wien steht: „Das Recht geht vom Volk aus.“

6 A 33 § B „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben) betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wunsch (…) sondern nur nach der Form im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.“

7 Das erwähne ich deshalb, weil T. S. Hoffmann in seinen Vorbemerkungen eine theologische oder teleologische Moralbegründung – als volitionale und motivationale Idee des Guten – durch Kant für überholt ansah.

8Ich folge hier einer RechtsbegrĂĽndung nach K. Hammacher, Rechtliches Verhalten und die Idee der Gerechtigkeit. Ein anthropologischer Entwurf, Baden-Baden 2011.
Es begegnen mir oft Theorien von beobachtbaren Tatsachen oder Erwartungen, die eine rechtliche Judifizierung und einen Ausgleich von Interessen verlangen. Es werden dann z. B. bei Habermas diskursive Tatsachen gegeneinander vorgebracht, aber das ist keine genetische Erklärung eines Rechts- und Geltungsanspruches. Siehe z. B. Luhmann/Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. 1992. Siehe auch Blogs von mir zu Habermas und Luhmann – Link

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser