Intellektuelle Anschauung bei KANT und FICHTE – 2. Teil, Schluss

Die unlösbare und undurchschaubare Einheit von unbegreiflichen Ding-an-sich und begreiflicher Faktizität der Erscheinung, wird von FICHTE in die Setzungsakte des Wissens zerlegt und erhellt werden können.

Zuvor aber wird von FICHTE selbst noch ein Argument bzw. selbstkritischer Einwand auf höherer, realistischer Ebene gebracht, die eine Auflösbarkeit des Subsumption des Phänomens unter dem Begriff des Fürsichbestehens verbietet: Es scheint für den Realismus doch zu sprechen, wenn schon nicht eine Einsicht in das unbegreifliche Ding-an-sich möglich ist, dass die Ursache einer Empfindung und Affektion im Rezeptivitätsvermögen des Ichs doch eindeutig etwas außerhalb des Selbstbewusstseins anzeigt, d. h.  dass ein realistisch Gegebenes vorausgesetzt werden muss? Die Art der Beziehung, in die ein so gefasstes Ding-an-sich zum Ich tritt, wäre die eines Kausalverhältnisses, wobei das Ding-an-sich als das verursachende Moment erschiene!?1

Nun habe aber KANT, so jetzt wieder das tiefer gehende Interpretieren  FICHTES, gezeigt, dass Kausalität ebenfalls nur ein Verhältnis der Erscheinungen untereinander bezeichnen kann. Generell alle Kategorien sind nur konstitutive Momente der Erfahrung und nur in einer selbstbewussten Beziehung auf Sinnlichkeit zu verstehen. Ein Kausalverhältnis zwischen Dingen-an-sich kann es nicht geben. KANT kann kein so eklatanter Selbstwiderspruch widerfahren sein.2

Das Missverständnis und die dogmatische Unterstellung eines Dings-an-sich ist für FICHTE auch leicht erklärt: Es wird ein zur Erscheinung hinzugedachten Begriff gesetzt, ein Noumenon – wie eben alle Dogmatiker das tun – nach einer durch KANT einsichtig gemachten Gesetzmäßigkeit des Denkens.

Das „Ding an sich“ ist aber „nur für unsere Denken, für uns denkenden Wesen, da“ (ZWEITE EINLEITUNG, SW I, 483) Ist das „Ding an sich“ aber nur „Gedankending“, so muss auch die dogmatisch-realistische Auffassung aufgegeben werden, dass es das Gemüt affiziere.

Es könnte jetzt weiter eingewandt werden: KANT hat aber doch eine Affektionslehre vertreten, wonach ein Außerhalb zur Affektion eindeutig angenommen werden muss?

FICHTE legt die Affektionslehre wiederum in der Art der Wissenschaftslehre aus: Der affizierende Gegenstand ist bereits ein zur Erscheinung hinzugedachter Gedanke. Das Ich denkt sich als affizierbar. Es schreibt sich Rezeptivität zu. Damit kann das empirisch Qualitative der GefĂĽhle – bei KANT Empfindungen – zwar nicht apriorisch abgeleitet werden, aber in seinem formalen Sinn kann es nur innerhalb des transzendentalen Vermögens des Ichs erfasst werden. Mit eigenen Worten erklärt: Im kategorialen Verstand sind die Qualia einerseits aposteriorisch, andererseits können sie nur innerhalb der apriorischen Form des Vollzuges des Bewusstseins, die letztlich eine sittlich-praktische Vollzugsform ist, in ihrer Bedeutung verstanden und gedacht werden. Die apriorische Gegebenheit des Wissens greift auf ein Gesamtes der aposteriorischen Gegebenheit ein, und umgekehrt liegt die Realität der aposteriorischen Gegebenheit im Gesamt des apriorischen Denkens. Nur im Modus von Wissensformen, die als Ă„uĂźeres und Objektives im Verstand (realistisch) angeschaut und kategorial bestimmt werden, vollzieht sich das apriorische Denken, und umgekehrt kann das Gesamt der aposteriorischen Erscheinung nur in diesen apriorischen Formen des Denkens gewusst werden.

Der von KANT mittels Unterscheidung von „Spontaneität“ und „Rezeptivität“ anvisierte transzendentale Sachverhalt, dass der Gegenstand hinzugedacht wird, ist somit nach der WISSENSCHAFTSLEHRE transzendental erklärbar und auflösbar: „Da das sich selbst setzenden Ich sich im gleichen Akt auch anschaut als sich setzend, so wird durch die Anschauung das Ich als ein beschränktes, endliches gesetzt. Aus der Möglichkeit des Ich wird die Notwendigkeit seiner Beschränktheit abgeleitet. Die Bestimmtheit diese Beschränktheit aber kann, gerade weil sie alle Ichheit bedingende ist, nicht weiter abgeleitet werden. So erscheint uns diese Bestimmtheit notwendigerweise als absolut zufällig und stellt in dieser Gestalt das bloß Empirische unserer Erkenntnis dar.“ 3

Das materiale Bestimmtsein dieses Wissens, dieses „zufällig“ des bloß Empirischen, liegt niemals außerhalb des formal-apriorischen Denkhorizontes – analog zu einem realistisch angesetzten Ding-an-sich. Formal wie material ist alles in der absoluten Ich-Einheit beschlossen, zugänglich durch die „intellektuelle Anschauung“.
Bis an sein Lebensende hat FICHTE sich hier diesem transzendentalen Denkansatz KANTS verpflichtet gesehen – siehe z. B. TRANSZENDENTALE LOGIK von 1812 –
und sozusagen bereits in der ZWEITEN EINLEITUNG wollte er KANT quasi entschuldigen und besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat.4

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© 15. 7. 2017

1Vgl. MANFRED ZAHN, ebd. S 501

2„Thut er aber diese Erklärung; so werde ich die Kritik d.r.V. eher für das Werk des sonderbarsten Zufalls halten, als für das eines Kopfes.“ (Zweite Einleitung, SW I, 486)

3MANFRED ZAHN, ebd. S 503.

4Vgl. z. B. eine Stelle aus „Transzendentaler Logik“ 1812, SW IX, 177f; „(…) 2) Wir sind in dem Vorhergehenden gekommen auf den Grund der Apperception, d.i. des Bewußtseins, Selbstbewußtseins in allem Wissen. Kant hat diese Apperception erkannt als Einheit oder Deduktionsgrund aller Denkgesetze oder Kategorien. Was eigentlich heißen müßte: alle Denkgesetze und alles nach ihnen zu Stande gekommene Denken sind jene Apperception selbst, nur weiter bestimmt durch besondere Fälle der Anwendung. (So spricht er in der Kritik der reinen Vernunft; liefert aber die Deduktion selbst nicht, obgleich ein Kapitel heißt: Deduktion der |Kategorien). Dies ist nun die große, das Wissen eigentlich neu erschaffende Behauptung Kants, die bei ihm freilich nur Anschauung geblieben, Genieblick, ohne daß er sie klar dargelegt oder bewahrheitet hätte. Kant sagt: die synthetische Einheit der Apperception, das: Ich denke, müsse alle meine Vorstellungen begleiten können. Auch die W.-L. weist das Ich nach als die Grundlage aller Vorstellungen. Kant nennt aber diese Einheit eine synthetische, d.h. die Einheit komme zu Stande durch Verbindung eines Mannigfaltigen, eben des Flusses, zu a; also auch Produkt einer solchen Synthesis, aus der Prämisse des Mannigfaltigen ein genetisches. Wie aber habe ich sie so eben beschrieben? Offenbar nicht als eine synthetische, sondern als eine analytische Einheit.

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser