Die Zeit und der Begriff der Kraft – WLnm 5. Teil

Eine ordinale Reihe der Dependenz, sinnlich angeschaut in der Kausalität des Willens und als Übergehen von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit, ist die Anschauung der Zeit.

„Zeit ist sonach nur die Form der Anschauung des Mannigfaltigen in Vereinigung vermittelst der DEPENDENZ.
Durch dieses Verfahren entsteht der Einbildungskraft eine Zeit. Das erste ungetheilte Wollen wird wiederhohlt, u. gleichsam über das Mannigfaltige ausgedehnt u. dadurch entsteht ein Zeitreihe.
Das Ich als das Bestimmende in dieser SYNTHESIS des MANNIGFALTIGEN fällt sonach selbst ()
in die Zeit.“(§ 11, S 120)

Sie ist in ihrer sinnlichen Anschauung einerseits nur ideal, d. h. weil sie ja auch begrifflich fixiert werden muss, sonst wäre sie nicht fassbar; die Vorstellungen sind in einem zeitlichen Nacheinander geordnet und wechseln darin je nach begrifflicher Fixierung; umgekehrt kann sie nicht nur ideal vorgestellt sein, weil das Ich ja selbst dieses ständige Werden, Fließen, Übergehen ist.

In der konkreten, bereits fertigen Vorstellung erzeugen wir nicht mehr die Zeit, da geschieht schon konkrete Wirksamkeit auf eine Hemmung (auf ein Objekt) und folglich ist die Zeit in dieser Wirksamkeit (und Wechselwirkung) schon enthalten.

In der akthaften Bildung der Vorstellung hingegen, im spontanen einschauenden Übergehen des freien Willens, in der Erfassung der Mannigfaltigkeit der Gefühle in einer kontinuierlichen Reihe, entsteht die Zeit – die, sobald sie ideal fixiert und angeschaut und bezogen auf ein Produkt der Einbildungskraft wird, das einschauende Übergehen im Willen, versinnlicht und verzeitet und vergegenständlicht vorstellt.1

Unversehens wechselt hier die Analysis des freien Willens in seinem Übergehen hinüber in eine Synthesis der Wirksamkeit desselben. Die Analysis des Willens kann gar nicht anders gedacht werden als zugleich selber die Synthesis der Vorstellung und des Handelns erzeugend.

Die Zeitanschauung ist somit immer bereits beides, Anschauung (oder Einschauung) des willentlichen Übergehens, und unmittelbar folgende begriffliche Fixierung im synthetischen Produkt der Einbildungskraft.

Sie bekommt aber damit eine höhere Wertigkeit als der Raum, weil zur idealen, begrifflichen Bestimmung, wie sie sonst im Raume angewandt wird, die Anschauung einer realen, sittlichen Bestimmung des deliberierenden, freien Willens hinzukommt, der sich ständig für oder gegen ein hierarchisch letztes Gutes und Wahres entscheidet, oder m. a.W. ständig in Rückbezug auf den REINEN WILLEN seine Identität setzt.

Dies ist gute transzendentalphilosophische Tradition: Es geht um ein analytisch wie synthetisch zugleich verlaufendes Verfahren der Erkenntnis: die reduktive Analysis (DESCARTES würde sagen, „divisio“) des Komplexen von Zweckbegriff und Objekten und das davon abhängige Verfahrens der Synthesis („com-positio“) führt zu einer komplexen Zusammensetzung von zweckhaftem Tun und Erkennen.2

Die Genesis der Zeitanschauung erscheint in der Vorstellung und in der Wirksamkeit des Willens bereits als synthetisches Faktum, als „compositum“ und Resultat; dessen Einheit und Bestimmtheit ist aber eigentlich nur freie Nachkonstruktion des übergehenden Willens und setzt die analytische Einheit eines vorhergehenden, prädeliberativen Willens voraus. Der nachkonstruierende Übergang des freien Willens (und nochmals könnte in dritter Stufe unterschieden werden des beobachtenden Philosophen) muss sich bereits der projektiven Vorstellung bedienen, übergehen zu können. Also geht der idealen Nachkonstruktion und idealen Zeitreihe eine reale Vorkonstruktion in einem prädeliberativen Willen und eine reale Entscheidungszeit voraus.

Der synthetische Teil der Methode ist eigentlich immer schon Bestandteil der Analysis im weiteren Sinn, nämlich derjenigen Bedingungen, die zum faktischen Beweis führen.  Ist das nicht eine petitio principii? Es wird in der Prämisse schon vorausgesetzt, was als Produkt analysiert wird?
In gewissem Sinne ja, aber das scheint mir die einzig erkenntniskritisch gerechtfertigte Methode zu sein! Es kann nichts gesetzt sein, was nicht im Bewusstsein der Bedingung der Möglichkeit nach gewusst gesetzt sein kann. Die Erkenntnis einer Sache kann nur durch die zugleich mitlaufende Erkenntnis seiner Gründe erfolgen. Die Gründe sind dabei nicht einfach blind vorausgesetzte, behauptete ontologische Data, sondern im Sinne des primärreflexiven Wissens zugleich gewusste Gründe, Vernunftgründe.

In der von FICHTE intuitiv eingesehenen, höchsten Einheit des REINEN WILLENS ist zugleich virtuell die Einschauung in den Anfangspunkt und die Entstehung der Zeit mitgesetzt: in einem material, sittlichen Sollen ist die Erfüllung oder Vollendung der Zeit virtuell-genetisch geschlossen, und im freien Übergang des formal freien Willens wird dieser virtuell gesetzte Anfangspunkt zeitlich und unendlich eingeholt.

Dies zeigt sich jetzt besonders stark in der Wlnm – und müsste natürlich von mir noch viel mehr ausgeführt und belegt werden: Das Prinzip der Kraft, oben in § 7 und Ende des § 11 noch allgemein als postulierte Form der Anschauung aufgestellt, wird ab § 12 durch die Form der Zeitanschauung sinnlich und intelligibel in die Welt hinein vermittelt. 3

Der formal freie Wille ist die unabhängige Tätigkeit und die Bestimmungskraft in allem Sinnlichen. Er lässt sich leiblich affizieren, aber nicht so, dass er dem Sinnlichen ganz unterworfen wäre oder vom Sinnlichen relativiert werden würde, sondern umgekehrt entfaltet der formale Wille das Sinnliche als Selbstversinnlichung des REINEN WILLENS und geht zu dessen (des REINEN WILLENS) Bedingungen in diese Selbstversinnlichung ein.

Es folgen daraus zwei unmittelbaren Weisen der unabhängige Tätigkeit und der Selbstversinnlichung und Selbstentfaltung des formalen Willens:

Die sich veräußernde intelligible Kraft oder Entscheidungskraft und sich veräußernde, sinnlich anschauliche, verleiblichende Kraft.

Der Wille zu äußeren Bedingungen angeschaut, das ist der ausschematisierte Leib; der Wille zu inneren Bedingungen angeschaut, das ist die intelligible Welt der inneren Bestimmtheit der Legalität, der Moral und des Gewissens; die erstrebte und erhoffte Form einer objektiven Idee, das ist die interpersonale und religiöse Welt der Sprache, Kultur, Ästhetik, Aszetik, Geschichte.  

(c) Franz Strasser 15. 5. 2015

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1Ich erinnere mich an Vorlesungen von Prof. R. LAUTH. Er liebte mehr die Terminologie des Wechselwirkung von Anschauung und Begriff, die dynamische Erfahrung, die Vertauschung der Kategorien durch die reflektierende Urteilskraft, um daraus die Zeit hervorgehen zu lassen. Die Vorlesungen von F. BADER zur Zeit gingen mehr auf die logischen Identitäts- und Reflexivitätsbestimmungen aus: In der inneren Anschauung ist die Zeit zuerst prädeliberativer Übergang von Entscheidungszeit zu Erscheinungszeit, prädeliberatives Herausgehen aus einem Sein der Freiheit zum Akt der Freiheit. Das Wissen hüpft nicht von Zeitpunkt zu Zeitpunkt, sondern hält seine Identität in diesem Übergang und diesem Wandel durchgehend fest, kontinuiert ihn und kontinuiert sich selbst in den Wandel hinein und erzeugt dadurch erst den Wandel. Die Zeit ist in der Reflexibilität  des Ichs  die Stelle des Übergangs von einem Minimum an Identität und einem Maximum an Verschiedenheit mit dem angrenzenden Teil. Weil das Wissen übergeht in dieser minimalen Identität und maximalen Differenz, erzeugt es den Wandel. Das zeitlose Wissen als Einheit hat dabei die Prädominanz, kontinuiert sich aber durch den Übergang, der aus ihm selbst hervorgeht, und so entsteht die innere Anschauung der Zeit und wird später verobjektiviert auf die Außenwelt übertragen als vergehende Zeit.

2Zum Vergleich bei DESCARTES, siehe M. GERTEN, Wahrheit und Methode bei Descartes, 2001, S 172ff.

3 „Die Form der Kraft ist die Zeit. Mein wollen wird wiederholt durch das mannigfaltige hindurch gezogen.“ (§ 11, S 121)

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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser