Menon 86b – 86e 2. Teil

(P. S. leider wird von manchen Browsern die griech. Orthografie  – SBL Greek –  nicht dargestellt; bitte dann die Übersetzung  nach Schleiermacher verwenden) 

86b SW. Oükoûn eÎ Âe˜ äh Âl®jðeia ähmîn tvn Óntwn Êstìn Ên t‰ q»ycð‰, ÂjðánatoV Àn äh q»ycð# eÍh, äõste jðarroûnta cðr# äò m# ty+cðáneiV ÊpistámenoV nÿn — toûto d) Êstìn äò m# memnhmænoV — Êpicðeireîn zhteîn ka˜ Ânamimn°skesjðai?

S86b SOKRATES: Wenn nun von jeher immer die Wahrheit von allem, was ist, der Seele einwohnt, so wäre ja die Seele unsterblich, so daß du getrost, was du jetzt nicht weißt, das heißt aber, dessen du dich nicht erinnerst, trachten kannst, zu suchen und dir zurückzurufen.

Es ist eine Form des ontologischen Gottesargumentes, wie es später ANSELM formulieren wird. Die Seele muss den Bedingungen gemäß existieren, was sie hier einsieht. Das ist eine intuitive Einsicht, keine diskursive, erst durch den Verstand in der Zeitform geschlussfolgerte Erkenntnis. Wenn die Seele überzeitliche Wahrheit einsieht, überzeitlich Gültiges, muss sie gemäß dieser Wissensweise existieren. Die Wissensweise hat Konsequenz für die Existenzweise.

Im unmittelbaren Argumentationsgang vorher hieß es:

SOKRATES: Wenn er sie aber in diesem Leben nicht erlangt hat und daher nicht wußte,

S86a so hat er sie ja offenbar in einer andern Zeit gehabt und gelernt.

MENON: Offenbar.

SOKRATES: Ist nun nicht dieses doch die Zeit, wo er kein Mensch war?

MENON: //III37// Offenbar.

SOKRATES: Wenn also in der ganzen Zeit, wo er Mensch ist oder auch, wo er es nicht ist, richtige Vorstellungen in ihm sein sollen, welche durch Fragen aufgeregt Erkenntnisse werden, muß dann nicht seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.

Der Sklave war implizit immer schon ein Wissender. Er hat das Wissen nicht erst in diesem Leben erworben. PLATON entdeckt hier im MENON großartig die Apriorität unseres Wissens. Nicht auf empirischem Weg erwerben wir dieses apriorische Wissen, sondern schon vor unserer Geburt haben wir es empfangen (von Gott).

Nochmals kurz vorher:

SOKRATES: Hat er sie nun immer gehabt, so ist er auch immer wissend gewesen. Hat er sie einmal erlangt, so hat er sie wenigstens nicht in diesem Leben erlangt. Oder

S85e hat jemand diesen die Meßkunst gelehrt? Denn gewiß wird er mit der ganzen Meßkunst ebenso verfahren, und mit allen andern Wissenschaften auch. Hat nun jemand diesen dies alles gelehrt? Denn du mußt es ja wohl wissen, da er in deinem Hause geboren und erzogen ist?

MENON: Ich weiß sehr gut, daß niemand sie ihn jemals gelehrt hat.

SOKRATES: Er hat aber diese Vorstellungen; oder nicht?

MENON: Notwendig, wie man ja sieht.

PLATON spricht hier die Messkunst an „und alle anderen Wissenschaften“ – gemeint sind Wissenschaften, in denen ausdrücklich apriorisches Wissen mitkonstitutiv angesetzt ist. Es hat heute der Naturalismus ein derartiges Übergewicht, dass solche Botschaft des PLATON direkt Kopfschütteln hervorruft.

Umgekehrt aber gefragt, es gäbe kein empirisches Wissen, wenn es nicht auch apriorisches Wissen gäbe.

Einzig die Transzendentalphilosophie scheint mir hier eine Begründung der Wissenschaft bieten zu können, denn sie thematisiert das apriorische Wissen, oder mit PLATON gesprochen, das überzeitliche Wissen. Es muss eine unmittelbare Evidenz geben – wozu es eigentlich nicht der Philosophie oder einer anderen Wissenschaft bedarf, die Philosophie reflektiert das nur – und alle diskursive, erst durch den Verstand in schlussfolgerndem Denken erreichte Erkenntnis ist nicht mehr a priori, weil im diskursiven Übergehen von einer Setzung zur anderen die Zeitform – und nicht die platonische Überzeitlichkeit – einfließt. Die durch den Verstand erreichte Erkenntnis ist nicht mehr die im Ausgang gewusste Erkenntnis und könnte so folglich nicht in einer äquivalenten Gleichung von Endpunkt und Anfangspunkt gebracht werden. Es muss die Vertrauensvoraussetzung gelten, dass Ausgangspunkt und Endpunkt des Wissens gleich sind. Wodurch wird das gerechtfertigt? Nicht durch die Zeit selbst und durch den die Zeit durchlaufenden Verstand – sondern wiederum nur im apriorischen Wissen und in der Einheit des Wissens wird die Äquivalenz einer Gleichung bewahrheitet.

Im Schlusswort von „… trachten kannst, zu suchen und dir zurückzurufen“ kann verwiesen werden auf das Höhlengleichnis in der POLITEIA: Der Seele müssen nicht erst die Augen des Wissens eingesetzt werden, sie muss nur (durch „geschicktes Fragen“) umgewandt werden.

Es wird ihr damit auch nicht Neues an sich verkündet, sie hat es schon! Sie besitzt das apriorische Wissen bereist. Das ist die Denkfigur der „anamnesis“, der Wieder-Erinnerung.

Alles diskursive Wissenschaft ist Wiedererinnerung an den ursprünglichen Besitz.

Aber selbst das empirische Wissen, das ich nur erfahren kann, ist nur zum Teil empirisch: denn die Form dieser empirischen Erfahrung ist gerade dieses Geistige des apriorischen Vorwissens, ist ein intelligibler Gehalt, der sich in der Erscheinung und Empirie verwandelt darstellt.

KANT hat das auf niederem Niveau in dem genialen Gedanken des Schematismus ausgdrückt: mittels des zeitlichen Schemas wenden wir die intelligiblen Begriffe auf das Sinnliche der Erfahrung an. So kommt eine Einheit des subjektiven wie objektiven Wissens zustande.

Das ist PLATON oder Transzendentalphilosophie: Das Empirische erscheint im selben genus (derselben Gattung) der Erkenntnis. Das Empirische ist selbst eine Art des Geistigen – und die geistige Urquelle des Wissens ist die platonische Apriorität des Wissens und die Anamnesislehre. Die apriorische Konstitution spielt in jede empirische Erkenntnis hinein, sonst gäbe es letztere Erkenntnis nicht – und umgekehrt wäre keine freie Erkenntnis möglich, gäbe es nicht die notwendige (apriorisch abgeleitete) Mannigfaltigkeit der empirischen Erfahrung.

Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser