Das Leib-Seele-Problem

In der Neurophysiologie und generell in der evolutionären Erkenntnistheorie (abk.=EE) wird die Auffassung vertreten, Erkennen sei eine Gehirnfunktion. Folglich müsse die Rede vom Bewusstsein in eine nichtsubjektivistische Sprache transformiert werden. Alle mentalen Phänomene sind naturalistisch erklärbar durch Reduktion auf physische Phänomene.

Man kann die Unterscheidung zwischen Bewusstsein einerseits und Hirnfunktion andererseits eventuell in ein anderes Gegensatzpaar zerlegen, indem man bei den „mentalen“ Prozessen – wenn ich dieses verwirrende Adjektiv einmal konzedieren will – von intentionalen,  beim Gehirn hingegen von neuronalen Prozessen spricht, aber wenn dann Mentales/Intentionales und Gehirn wieder zusammengehen sollen, steht man wieder vor demselben Problem: Wie können diese zusammengehen? Es bleibt eine naturale Anomalie und ein Wunder der sinnlichen Natur, dass Geist und Leib, Intentionalität und Gehirnfunktion, zusammenpassen? Was aber wäre, wenn der ganze ontologische Dualismus falsch wäre? Die empirische Natur kann weder rein naturalistisch aus sich selbst erklärt werden, noch kann diese Natur idealistisch-rational aus dem Geiste erklärt werden. 

Eine naturalistische Erkenntnistheorie, die von irgendwelchen beobachteten Hirnphänomenen ausgeht, muss ständig zwischen neuronalen „Geistesfunken“ und gedeuteten, projizierten Mustern, zwischen materialen Erscheinungen und deren geistigen Interpretationen, hin und her springen und nachträglich eine Zeitreihe in räumlicher Anordnung und einen kausalen Zusammenhang bei conditionalen Voraussetzungen aufstellen, warum und wie es zu „mentalen“ „Geistesfunken“ kommen kann. Das entbehrt alles einer Erklärung bzw. beschwört eine ständige petitio principii (Erschleichung) herauf.

In einer philosophische Prinzipienerkenntnis der Leib-Seele-Einheit müssen die gehirnphysiologischen Vorgänge nicht unbeachtet bleiben, können sie gemessen und analysiert werden, aber alle induktiv gefundenen Wahrscheinlichkeitsergebnisse können nur innerhalb eines apriorischen Konzepts des  Sehens und innerhalb eines selbst apriorisch abgeleiteten Begriffes der Empirie beschrieben werden.  

Der Leib kann nicht unerklärlich  als „res extensa“ einem ebenso unerklärlichen „res cogitans“ des Geistes gegenüberstehen, sondern beide gehören  als Leib und Geist einer Gattung des Erkennens und des Wollens-in-actu an. In der fichteschen Transzendentalphilosophie: Der Leib ist eine intelligible Willensmanifestation des Geistes in versinnlichter Form. Die Naturkraft, die gemeinhin von der Einzelwissenschaft z. B. von der Physik in einem objektivistischen Sinne vorausgesetzt wird, ist ein abgeleitetes Produkt, darstellbar als Vektor einer inneren Kraft. Alle Außenkausalität ist ein Analogon einer inneren Willenskausalität. Allen sinnenweltlichen Erscheinungen liegt ein intelligibles Substrat zugrunde, das sich quantitiert verwandelt darstellt. Jeder Dualismus von Geist und Materie, Seele und Leib, muss in einer transzendental-reflexiven Durchdringung der Wirklichkeit überwunden werden können zugunsten einer prinzipiellen Einheit von Denken und Sein, Seele und Leib.

Der Wille zu äußeren Bedingungen angeschaut,  das ist der ausschematisierte Leib; der Wille zu inneren Bedingungen angeschaut, das ist die intelligible, sittlich-werthafte Wirklichkeit, die triebhaft gewollt wird.

In und durch die transzendentale Bestimmung des Leibes konstituiert sich die reelle Wirksamkeit des formal freien Willens in der Entscheidungszeit und Erscheinungszeit, ferner in der Entscheidungskraft und Leibeskraft.

Die WLnm (1796-1799) demonstriert sehr anschaulich, wie Freiheit und Natur zusammenwirken im System der Sensibilität [ebd., § 8, § 11; § 13], in der Ableitung der Motorik und Sensorik des Leibes [§ 14 [GA IV, 2, 155ff], in der Ableitung der Organizität [§ 15; GA IV, 2, 171f]; schlieĂźlich in der Ableitung des Begriffes der Kraft [§ 17; GA IV, 2, 197f und 210ff] und in der Ableitung der Artikulation und Organisation [§ 19; GA IV, 2, 256 – 261].

Oder, zeitlich parallel entstanden, zitiert aus der „Sittenlehre“ von 1798:

Das geistige in mir, unmittelbar als Princip einer Wirksamkeit angeschaut, wird mir zu einem Willen. Nun aber soll ich auf den schon oben seiner Entstehung nach beschriebenen Stoff wirken. Aber es ist mir unmöglich, eine Wirkung auf ihn zu denken, ausser durch das, was selbst Stoff ist. Wie ich mich daher, wie ich muss, wirkend denke auf ihn, werde ich mir selbst zu Stoff; und inwiefern ich so mich erblicke, nenne ich mich einen materiellen Leib. Ich, als Princip einer Wirksamkeit in der Körperwelt angeschaut, bin ein articulirter Leib; und die Vorstellung meines Leibes selbst ist nichts anderes, denn die Vorstellung meiner selbst, als Ursache in der Körperwelt, mithin mittelbar nichts anderes, als eine gewisse Ansicht meiner absoluten Thätigkeit. (Sittenlehre 1798, SW IV, 11)1

(c) Franz Strasser, 25. 5. 2015

1Es ist m. E. ein beschämendes Ereignis, wie bis jetzt die Einheit von Seele und Leib auĂźerhalb einer transzendentalen Erklärungsart zu beschwören versucht wird. Es wird von emergenten Erscheinungen gesprochen, von „Geist-Philosophie“, von prästablierten Harmonien usw. Zum Leib-Seele-Zusammenhang bei FICHTE könnten neben WLnm und SL 1798 auch die PLATNER-Vorlesungen (GA II, Bd. 4) u. a. Schriften herangezogen werden.

 
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Autor: Franz Strasser

Dr. Franz Strasser